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Juhu, Pandemiezeit und raus aus dem Hamsterrad – ein Plädoyer für eine Umkehr der Wertehierarchie

von Ulrike Böker

Mit diesem provokativen Titel möchte ich keinesfalls die Toten und das Leid, das die Corona-Pandemie mit sich brachte und bringt, verharmlosen. Wenn ich alleine an die Kinder denke, die über Wochen daheimbleiben mussten, nicht selten bei Eltern mit schweren psychischen Störungen, oder an die alten Menschen, die alleine in den Heimen saßen und oft einsam starben, dann bricht es mir das Herz.

Doch daneben gibt es auch durchaus positive Aspekte der Pandemie, die bereits in Vergessenheit geraten. Schließlich muss nun vor allem die Wirtschaft wieder angekurbelt werden – bald um jeden Preis.

Vor einigen Tagen traf ich eine Bekannte, die meinte: „Nächste Woche endet die Kurzarbeit. Dann geht es wieder rein in das verdammte Hamsterrad und das bedeutet wieder Daueranspannung. Eine Reduzierung der Arbeitszeit kann ich mir leider nicht leisten.“

Und eine Patientin meinte: „Jetzt fängt der Druck wieder an. Wir buckeln uns ab, damit sich ein paar Reiche die Taschen noch mehr vollstopfen. Wieso eigentlich immer noch mehr Wachstum? Diese schreckliche Leistungsgesellschaft und dieser schreckliche Kapitalismus!“

Einem nicht unerheblichen Teil meiner Patientinnen und Patienten ging es während des Lockdowns – trotz finanzieller Einbußen und reduzierter Kontakte – besser als zuvor. Sie erlebten den Wegfall des beruflichen Drucks, der vielen Termine des Alltags, der Menschenmassen auf den Straßen als entlastend und wohltuend. Die psychischen Beschwerden hatten sich deutlich reduziert.

Was im Umkehrschluss bedeutet, dass ein erheblicher Teil psychischer Störungen durch die Belastungen in unserem übervollen Alltag und die Überforderungen im Beruf zumindest deutlich verstärkt werden.

Steigender Leistungsdruck, schnellere und sich schneller ändernde Arbeitsprozesse, ausgeweitete Arbeitszeiten, Überstunden, Personalmangel, ständige Erreichbarkeit, befristete und schlecht bezahlte Arbeit sind einige der belastenden Faktoren in der Arbeitswelt. Hinzu kommt ein ständiger Overload durch die Dauerstimulation in den Medien. Zu viel Input, zu viel Lärm, zu viel Umweltverschmutzung, zu viele Menschen.

Unsere Gesellschaft und unser Lebensstil machen psychisch krank!

Es ist aber für die Politik einfacher, die PsychotherapeutInnen zu bezichtigen, dass sie unnötig und zu lange behandeln, als sich dieser Tatsache zu stellen. Diese Vorwürfe werden bevorzugt von unserem industrieaffinen hyperaktiven Gesundheitsminister aufgegriffen – man erinnere sich an die Idee des Obergutachters vor Therapiebeginn – und von Herrn Lauterbach, dessen Partei das „sozial“ schon lang nur noch im Namen trägt.

Kürzlich hörte ich ein Interview mit einem Umweltforscher, der meinte, wenn wir alle uns auf den Lebensstandard der 60er-Jahre reduzieren würden, wäre das der beste Beitrag zum Umweltschutz. Vielleicht wäre es ja auch der beste Beitrag zum Seelenschutz?

Im Rahmen der Ausbildungsreform wurde das Berufsbild durch die BPtK neu definiert. Darin heißt es: „PsychotherapeutInnen beteiligen sich an der Erhaltung und Weiterentwicklung der soziokulturellen Lebensgrundlagen mit Hinblick auf ihre Bedeutung für die psychische Gesundheit der Menschen und setzen sich dabei aktiv für Schutzrechte von Menschen gegen benachteiligende Strukturen und Prozesse ein.“

Vielleicht sollte die Profession ihren Blick deutlicher auf die verursachenden gesellschaftlichen Strukturen richten, statt sich nur auf die Symptombehandlung zu konzentrieren.

Psychotherapie kann nicht als Reparaturbetrieb dienen, um die Menschen wieder in einem kranken Umfeld funktionsfähig zu machen. Psychische Störungen müssen vielmehr als Indikatoren gesehen werden, quasi als „normale“ Reaktionen auf ein krankmachendes gesellschaftliches System. Nicht nur zum Wohle der Menschen, sondern auch zur Abmilderung der Klimakrise muss es einen Paradigmenwechsel geben: weg von schneller, größer, mehr, hin zu einem maßvollen Umgang mit den Ressourcen der Erde und auch des Wesens Mensch. Das erfordert auch eine vollkommene Umkehr der Wertehierarchie, in der im Moment der Profit und das Wachstum den ersten Platz einnehmen – zur maßlosen Bereicherung einiger Weniger und zum Schaden Vieler.

Im Politischen muss das heißen, dass PsychotherapeutInnen genauso wie ÄrztInnen lauter ihre Stimme erheben gegen gesellschaftliche Missstände. Die Psychologists for Future sind ein gutes Beispiel für eine solche Bewegung.

Im Gesundheitswesen kann das nichts anderes bedeuten, als dass der Ökonomisierung Einhalt geboten werden muss. Krankheit darf keine wirtschaftliche Ware, Krankenhäuser dürfen nicht profitorientiert ausgerichtet sein, nicht als Aktiengesellschaften mit möglichst hoher Dividende.

Und im Therapieraum? Hier ist die dysfunktionale Gleichsetzung vom eigenen Selbstwert der PatientInnen mit ihrer Leistungsfähigkeit fast immer Thema und die Änderung der Wertehierarchie sowie der kritische Blick auf die Leistungserwartungen Therapieinhalt. Was verschafft kurzfristige Befriedigung und was trägt zur langfristigen Zufriedenheit bei?  

Nur diejenigen, die in der Fülle leben, können sich dafür entscheiden, auf etwas zu verzichten. Verzicht auf Konsum muss damit als Luxus verstanden werden, nicht als Beeinträchtigung der Freiheit und der unbegrenzten Möglichkeiten.

Das alles wäre wunderbar und scheint nicht unmöglich zu sein. Wenn man denn die aktuelle Krise als Chance nutzt.

Autor*in

Ulrike Böker

Seit 2010 Mitglied des bvvp, seit 2012 im Bundesvorstand aktiv und stellvertetende Vorsitzende des bvvp-Baden-Württemberg. Mit eigener Kassenzulassung in Reutlingen tätig. Ich bin Mitglied in den Vertreterversammlungen der KV Baden-Württemberg und der KBV. Ich engagiere mich im BFA, in der Kammer Baden-Württemberg und bin Delegierte des DPT.

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