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Keine Raster-Psychotherapie – Plädoyer wider die Reparaturmechanik im politischen Denken

von Benedikt Waldherr

Liebe Kolleginnen und Kollegen,

manchmal kann einem schon der Kragen platzen angesichts unserer Gesundheitspolitik und der zugehörigen BMG-Administration. Eine Rasterung der Psychotherapie nach festen Stunden-Vorgaben für bestimmte Diagnoseziffern, das kann sich nur ein politischer Kopf ausdenken, aber gewiss kein Psychotherapeut, der seinen Beruf versteht.

Da kommt wieder kurz vor knapp im Mai eine Regelung im Gesetz zur Weiterentwicklung der Gesundheitsversorgung (GVWG), die wir in anderem Gewand vor dreieinhalb Jahren im Terminservice- und Versorgungsgesetz (TSVG) schon einmal massiv bekämpft haben. Ich möchte nur an die von uns initiierte und bis dahin größte Bundestagspetition aller Zeiten erinnern, die Herrn Spahn damals durchaus überrascht hat.

Meint man in der Politik tatsächlich, wir hätten kein Gedächtnis? Denkt man vielleicht, wir wären kurz vor Ende der Legislaturperiode nicht mehr aufmerksam? Glaubt man wirklich, dass man auf „leisen Sohlen“ etwas durchsetzen kann, was dem Wesen der Psychotherapie völlig widerspricht?

Eine Psychotherapie, die den Menschen, wenn er psychisch erkrankt ist, im Zentrum hat, muss diesem die Möglichkeit einräumen, sowohl seinen Therapeuten, seine Therapeutin selbst zu suchen, als auch das Gefühl der Passung selbst in der eigenen Seele wahrzunehmen. Wie kann man annehmen, dass man Passung von oben über den G-BA verordnen könne? Wie kann sich die Politik anmaßen, psychisch kranken Menschen vorzuschreiben, wie lang sie krank sein dürfen oder wie schnell sie sich durch eine Störung hindurchgearbeitet haben sollen? So kann man vielleicht ein Auto reparieren, aber keine menschliche Seele. Es ist erstaunlich, welch merkwürdige Reparaturmechanik in den Köpfen wichtiger Gesundheitspolitiker offensichtlich das Denken bestimmt.

Wir haben uns also auch diesmal als bvvp mit Vehemenz dafür eingesetzt, dass ein derartig unsinniger Vorschlag in der Versenkung verschwindet. Mithilfe verschiedener politischer Kräfte aus der Bundestagskoalition sowie aus dem Oppositionsspektrum konnten wir tatsächlich erreichen, dass zumindest noch einmal ausführlich über diese Regelung nachgedacht wird. Ob sie tatsächlich endgültig in der politischen Versenkung verschwinden wird, werden wir sehen. Denn Überraschungs-Gesetze oder Ad-hoc-Änderungsanträge, die selbst die Bundestagsabgeordneten der eigenen Fraktion verblüffen, sind ja inzwischen hoffähig geworden.

Es ist wichtig, dass jeder Mensch – wenn er sich denn selbst als krank erlebt, an sich und seinem Leben leidet und keine Lebensfreude mehr empfinden kann – ausreichend Zeit findet, bei sich selbst, in der eigenen Biografie, in den eigenen Lebens- und Verhaltensmustern nachzuforschen, in sich hineinzuspüren und schrittweise zu ändern, was ihm selbst im Wege steht.

Und noch ein fundamentaler Grundsatz sollte in der Politik verstanden werden. Wir behandeln keine Erkrankungen, sondern Menschen mit Erkrankungen – ein kleiner, aber wesentlicher Unterschied. Behandlung „ausschließlich “ von Erkrankungen kennen wir leider aus der somatischen Medizin der Vergangenheit. Damals hieß es gelegentlich im Krankenhaus „die Niere aus Zimmer 15 hat eine Blutung“, „der Herzinfarkt auf Zimmer 3 ist gerade verstorben“ oder „die Schizophrenie von Station 9 taucht gerade wieder einmal in den Wahn ab“. Das sind sicher holzschnittartige Negativbeispiele – erfreulicherweise hat sich hier auch in der somatischen Medizin viel getan –, aber sie verdeutlichen Entscheidendes:

Diese Reduktion eines kranken Menschen auf seine Symptome, seine Organe und seine Erkrankung ist zutiefst unmenschlich und der Genesung des Menschen nicht förderlich.

Da hilft es auch wenig, wenn man gebetsmühlenartig wiederholt, man wolle die sprechende Medizin stärken. Wer ein derartig technizistisches Krankheitsverständnis hat, geht fehl. Die Medizin – und besonders die Psychotherapie – ist kein Reparaturbetrieb, der Menschen nach dem Willen eines übergeordneten Auftraggebers wiederherstellt. Dass der Mensch gemäß den Prinzipien und Bedürfnissen der Wirtschaft zu funktionieren hat, haben schon große Philosophen im vorletzten Jahrhundert als Hauptproblem des Kapitalismus charakterisiert. Und es dürfte auch im Spätkapitalismus noch zutreffen, darf aber nicht der heutige Maßstab für eine humane Psychotherapie sein.

Insofern ist die Erkenntnis vielleicht nicht wirklich neu, aber wesentlich: Dass es um den individuellen Menschen in seiner persönlichen Not und Erkrankung geht, wenn wir Psychotherapeuten eine angemessene, sinnvolle und natürlich auch wirtschaftlich-zweckmäßige Psychotherapie planen und durchführen. Die muss dann, wenn sie individuell angepasst ist, in der Dauer differieren können, selbst wenn bei unterschiedlichen Patienten und Patientinnen dieselbe Diagnosekategorie zur Anwendung kommt. Insofern braucht Heilung Spielraum.

Aber Gott sei Dank geben die Zahlen der kassenärztlichen Bundesvereinigung den Blick frei auf das Behandlungsgeschehen in der Psychotherapie in der Bundesrepublik. Allen Beschwörern von Fehlallokation oder „Kaffeekränzchen“ in der Psychotherapie zum Trotz beenden Menschen mit psychischen Problemen ihre Behandlungen selbstständig und zwar sobald ihr Leidensdruck abgeklungen ist. Psychisch kranke Menschen brauchen keine politische Gouvernante, die ihnen sagt, wann sie geheilt zu sein haben.

Wie viel Misstrauen in die kranken Menschen und deren Psychotherapeuten muss man als parlamentarischer Staatssekretär im Bundesministerium für Gesundheit und Mitglied des Deutschen Bundestages haben, wenn man einer Kollegin aus dem Bundestag auf deren Anfrage zur geplanten Rasterpsychotherapie antwortet:

„Vor dem Hintergrund, dass nach eigenem Bekunden der G-BA voraussichtlich im August 2021 seine Richtlinie für eine berufsgruppenübergreifende, koordinierte und strukturierte Versorgung insbesondere für schwer-psychisch kranke Versicherte mit einem komplexem psychiatrischen und psychotherapeutischen Behandlungsbedarf (Paragraf 92 Absatz 6B Fünftes Buch Sozialgesetzbuch-SGB V) beschließen wird, erscheint es aus Sicht des Bundesministeriums für Gesundheit zeitlich und fachlich sinnvoll, dass im G-BA nahtlos über eine etwaig erforderliche Anpassung und Weiterentwicklung auch der Psychotherapie-Richtlinie weiter beraten werden kann.“

Die in diesem Zitat dargestellte Komplexrichtlinie unterstützen wir als Berufsverband, der an einer qualitativ guten Versorgung höchst interessiert ist, ausdrücklich. Wir haben von Seiten des bvvp intensiv daran mitgearbeitet, eine ausführliche Stellungnahme dazu erarbeitet und in der Anhörung am 4.05.2021 unsere Auffassungen dazu vertreten. Aber diese Richtlinie ist noch nicht fertig und vieles daran ist auch noch nicht wirklich ausgegoren. Die unterschiedlichen Vorstellungen und Widersprüche zwischen Vertretern der Krankenkassen, der Kassenärztlichen Bundesvereinigung, der Deutschen Krankenhausgesellschaft und natürlich der Politik gehen noch immer auseinander.

Es braucht noch Einiges, bis diese Richtlinie tatsächlich in die Versorgung implementiert werden kann und dort dann auch wirken kann. Bis wirklich schwer psychisch-gestörte Menschen beispielsweise mit chronischer Hospitalisierung nach einer Schizophrenie, oder neurologischen Grunderkrankungen (Schädelhirntrauma, Demenz, Parkinson) und psychischen Folgeerkrankungen oder Mehrfachdiagnosen wie Apoplex und Depression nach der neuen Richtlinie sinnvoll und adäquat behandelt werden können, wird Zeit benötigt. Jetzt schon unter Fristsetzung zum 31.12.2022 darüber nachzudenken, wie man dann weiter hineinreguliert in die Behandlung der Menschen und in andere Regelungswerke aus dem Bereich Psychotherapie, ist verfrüht. Es zeugt von hohem politischem Ehrgeiz, aber von wenig Verständnis von der Sache.

Regelrecht demaskierend ist aber der folgende Satz, ebenfalls aus der Antwort des Bundesgesundheitsministeriums an besagte Abgeordnete:
„Ziel – sowohl der Versorgung nach Paragraf 92 Absatz 6A als auch nach Absatz 6B SGB V – ist, eine an dem jeweiligen Bedarf für die Behandlung einer Erkrankung orientierte, zielgenaue, Zeit und bedarfsgerechte und insoweit passgenaue Versorgung zu etablieren.“

Hier geht es also zunächst einmal um die Erkrankung und nicht um den Menschen (siehe oben). Dann meint der Verfasser, möglichst viele Begrifflichkeiten und Adjektivhäufungen zu benötigen, um der ambulanten Psychotherapie Handschellen anzulegen – verbrämt als passgenaue Versorgung.

Obwohl in dem zitierten Satz viele wichtige Begriffe vorkommen, ist die Aneinanderreihung in ihrer Dichte verräterisch. Wenn man so viel regulieren muss, hat man überhaupt kein Vertrauen zu den Betroffenen. Und genau das ist so kritikwürdig an diesem politischen Vorgehen. Es fehlt an Augenmaß und an Vertrauen in die Menschen, die leiden, und in jene, die sie behandeln. Handschellen allein reichen offensichtlich nicht mehr. Man muss auch noch eine Fesselung an den Beinen vornehmen.

Man bezichtigt die psychisch Kranken, sie wollten eigentlich gar nicht gesund werden, sondern lieber irgendwie gemütlich beim Therapeuten herumsitzen. Wer von den Entscheidungsträgern immer nur auf der Erfolgs- und Überholspur gelebt hat, kann sich vermutlich wirklich schwer in Menschen mit anderen Biografien hineindenken. Doch eine Gesellschaft, die dem Gehirn, Verstand und der psychischen Anpassungsfähigkeit der arbeitenden Menschen immer mehr abverlangt, muss damit rechnen, dass psychische Probleme zunehmen, weil die Menschen irgendwann in ihrem psychischen Apparat überfordert sind. Vielleicht steckt ja das hinter dem zunehmenden Bedarf nach Psychotherapie und nicht, dass Menschen mit psychischen Erkrankungen sich in der Psychotherapie irgendwie betüteln lassen wollen, wie noch immer manche unterstellen.

Autor*in

Benedikt Waldherr

Bundesvorstand des bvvp, Psychologischer Psychotherapeut
Seit 1987 niedergelassen als Verhaltenstherapeut in Landshut, seit 1995 in der Berufspolitik engagiert. Seit der Umsetzung des Psychotherapeutengesetz von 1999 verschiedene Funktionen und Aufgaben in den Gremien der Kassenärztlichen Vereinigung Bayerns (KVB), seit 2003 aktiv in der Landes-Psychotherapeutenkammer Bayern als Mitglied der Bayerischen Delegiertenversammlung und als Delegierter zum Deutschen Psychotherapeutentag.

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