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Gewalt unter der Geburt – das unsichtbare Trauma

von Rebecca Borchers

Schätzungen gehen davon aus, dass 20% bis 45% der Gebärenden unter der Geburt Gewalt erleben – das sind zwischen 160.000 und 350.000 traumatisierte Menschen in Deutschland pro Jahr. Deshalb ist es überraschend, dass von meinen über 31.000 psychotherapeutischen Kollegen und Kolleginnen bisher nur wenige mit dem Thema vertraut sind.

Der Verein Mother Hood e.V. beschreibt auf seiner Homepage drei Formen von Gewalt unter der Geburt:
Bei physischen Übergriffen geht es um das Festhalten der Gebärenden, das Fixieren ihrer Beine sowie die Durchführung medizinisch nicht notwendiger Interventionen, zum Beispiel vaginaler Untersuchungen oder eines Dammschnitts.
Mit psychischer Gewalt sind verbale Aggressionen gemeint wie Drohungen, Beleidigungen oder erniedrigende Kommentare („Ich nähe den Damm etwas enger. Ihr Mann wird es mir danken”), aber auch rassistische oder diskriminierende Äußerungen. In diese Kategorie gehört auch das Alleinlassen der Gebärenden, was in vielen Kliniken schon auf Grund des Personalmangels häufig geschieht, wo eine Hebamme zwei bis manchmal fünf Frauen gleichzeitig betreuen muss.
Die dritte Form der Gewalt unter der Geburt ist die strukturelle, also eine Unterversorgung mit geburtshilflichen Einrichtungen und Vor- oder Nachsorgeangeboten sowie das Fehlen politischer Bestrebungen zur Prävention von Gewalt gegen Gebärende. Eine Petition aus Niedersachsen möchte deshalb jetzt die Geburtshilfe der Grundversorgung zuordnen, damit der nächste Kreißsaal in maximal 30 Minuten erreichbar ist – was gerade in akuten Notfällen über Leben und Tod von Mutter und Kind entscheiden kann.

In meiner mehrjährigen Ausbildung zur Psychologischen Psychotherapeutin ist mir das Thema Gewalt unter der Geburt kein einziges Mal begegnet. Fachfortbildungen oder gar eigene Therapiekonzepte zu dem Thema habe ich (bisher) nicht gefunden. Die wissenschaftliche Sammeldatenbank EBSCOhost zeigt nur 10 Treffer zur Suchanfrage „Geburt & Gewalt“.

Wie kann das sein? Zum einen handelt es sich bei Gebärenden um eine besonders vulnerable Gruppe: Nicht nur der Geburtsprozess selbst ist ein physiologischer Ausnahmezustand, sondern auch die Zeit davor ist von hoher Abhängigkeit gekennzeichnet. Zahlreiche Arztbesuche, Untersuchungen und Veränderungen in der individuellen Lebensführung werden mit dem ständig drohenden Risiko der Schädigung für das ungeborene Leben begründet. Schwangerschaft und Geburt werden in unserer Gesellschaft nicht als natürlicher Teil des Lebens gesehen, sondern als Risikofaktor. Dazu passt auch, dass mittlerweile bei mehr als 90% der Geburten Interventionen durchgeführt werden.

Außerdem werden gewalttätige Handlungen unter der Geburt oft als medizinisch notwendig gerechtfertigt – von denen, die Gewalt anwenden genauso wie von denen, die sie erleben. Die informierte Zustimmung der Gebärenden wird nur selten eingeholt (obwohl im Patientenrechtegesetz ausdrücklich gefordert). Der Bundesgerichtshof hat dazu geurteilt: Schwangere sollen nicht „unnötig“ mit Informationen über „theoretische Risiken“ belastet werden; gleichzeitig kann unter dem Geburtsprozess selbst wegen der Schmerzen aber keine rechtsverbindliche Einwilligung mehr eingeholt werden.

Im Rahmen der Abschaffung des §219a möchte die Bundesregierung eine Kommission zur reproduktiven Selbstbestimmung gründen. Ich hoffe, dass es das Thema Gewalt unter der Geburt auf die Tagesordnung schafft. Denn ich habe den Eindruck, dass Gebärende (und ihre Begleitpersonen) viel zu oft allein gelassen werden: von der Politik und den Forschenden, von den Kliniken und den Geburtshelfern, aber auch von uns, den Psychotherapeuten und Psychotherapeutinnen.

Ich wünsche mir von meinem Berufsstand, dass wir gemeinsam gegen jede Form von Gewalt, entwürdigender Behandlung und gewaltfördernder Struktur vorgehen. Ich wünsche mir, dass wir mit unserem methodischen Fachwissen und unseren akademischen Arbeiten dazu beitragen, dass das Phänomen Gewalt unter der Geburt professionell untersucht wird. Und ich wünsche mir, dass diese besonders perfide Form der Traumatisierung einer hoch vulnerablen Gruppe in der Aus- und Weiterbildung stärker berücksichtigt wird.

Quellen und weiterführende Informationen

Podcast “ZuRECHTgerückt”, Folge 11 “Gewalt in der Geburtshilfe” (zum Beispiel hier)

BMFSFJ: Bundestag beschließt Aufhebung des Werbeverbots für Schwangerschaftsabbrüche

Mother Hood e.V.: Stichwortsuche Gewalt in der Geburtshilfe

Statista: Anzahl der Geburten in Deutschland von 1991 bis 2021

Christina Mundlos (2015). Gewalt unter der Geburt: Der alltägliche Skandal. Tectum Verlag.

Gewalt bei der Geburt: Der unbekannte Skandal – MrWissen2go EXKLUSIV

Mother Hood e.V.: Petition Niedersachsen: Geburtshilfe als Grundversorgung im Krankenhaus

Autor*in

Rebecca Borchers

Rebecca Borchers, Psychologische Psychotherapeutin, ist Schatzmeisterin im Landesverband Berlin und Mitglied im Jungen Forum des bvvp. Sie arbeitet ambulant im Jobsharing und ist angestellt in einem Privatinstitut für Psychotherapie.

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2 Kommentare

Morna Regina Braach
  • 18. Juli 2022 um 14:52 Uhr

Danke für den interessanten Artikel! Tatsächlich war mir das gar nicht bewusst. Das muss sich ändern!! Herzlichen Gruß M. Braach


beilluisa
  • 21. Juli 2022 um 13:42 Uhr

Danke Frau Borchers für diesen wie ich finde sehr guten und wichtigen Artikel. Danke fürs Aufmerksammachen. Ich hoffe mehr PsychotherapeutInnen nehmen sich dem Thema an, informieren sich und nehmen Frau in ihren Belangen bzw. traumatischen Erfahrungen ernst. Das Thema wird tatsächlich sehr wenig behandelt, wenn nicht sogar tabuisiert. Selbst ich hatte in meiner Ausbildung kein Seminar zu diesem Thema. Damals hatte ich einen Dozenten in einem PTBS-Seminar, der die traumatisch-erlebten Geburten von Frauen heruntergespielt hat. Nach dem Motto, “Geburt ist halt qualvoll, muss Frau halt durch, is noch lang kein Trauma”. Doch was die Geburt für vielen Frauen qualvoll macht, haben Sie in ihrem Beitrag ja sehr gut dargestellt. Ich hoffe die neue S3 Leitlinie wird noch mehr Bewusstsein schaffen und Kliniken und unsere Gesellschaft zum umdenken bringen. Das würde vielen Frauen eine Möglichkeit geben, Geburt als etwas Schönes und Kraftvolles zu erleben.