bvvp - Blog
Welche Fragen treiben Psychotherapeut*innen gerade um? Was müssen sie wissen, wenn sie in den Beruf starten – oder in Zeiten des beruflichen Umbruchs? Unsere bvvp-Blogautor*innen schreiben über alle brisanten Themen – und sind dabei mit Ihnen im Dialog. Einfach im Mitgliederbereich anmelden und mitdiskutieren!
Namentlich gekennzeichnete Blogartikel geben nicht unbedingt die Meinung des bvvp-Bundesvorstands oder der Homepageredaktion wieder.
Problematischer Umgang mit Studienergebnissen zur Serotonin-Hypothese trägt zu Verunsicherung von Patient*innen bei
- 19. August 2022
- Forschung
- Versorgung
Ein Zwischenruf zur Diskussion zur Serotonin-Hypothese von Dr. med. Reinhard Martens
Unter dem Titel „Serotonin-Hypothese greift zu kurz“ berichtet die BPtK in ihren Webnews von einer Überblickstudie von Joanna Moncrieff, Ruth E. Cooper, Tom Stockmann, Simone Amendola, Michael P. Hengartner und Mark A. Horowitz, die die Ergebnisse von 17 zusammenfassenden Studien auswertete. Darin wird geschlussfolgert, dass die sogenannte Serotonin-Hypothese aus den 1960er-Jahren, die depressive Symptome wie Niedergeschlagenheit oder Antriebslosigkeit auf einen Mangel an Serotonin im Gehirn zurückführt, zu kurz greife.
Dazu ist zu sagen:
Die Überblickstudie hat lediglich untersucht, ob es einen Zusammenhang zwischen einem Serotoninmangel und depressiven Erkrankungen gibt. Dabei stützt sie sich zunächst auf Untersuchungen der Plasmakonzentration von Serotonin im Blut von Menschen mit depressiven Erkrankungen. Hierzu ist anzumerken, dass Serotonin nicht die Blut-Hirn-Schranke überwinden kann, weswegen es sehr gewagt ist, von der Plasmakonzentration von Serotonin auf die Serotonin-Aktivität im Gehirn zu schließen. Insofern ist die Feststellung, dass der Serotoninspiegel im Serum nicht mit depressiver Symptomatik in Beziehung steht, kein Beweis dafür, dass das serotonerge System im Gehirn nicht in irgendeiner Weise bei einer Gruppe depressiver Menschen entweder am Krankheitsgeschehen oder an dessen Auflösung beteiligt sein kann.
Dann werden weitere Studien ausgewertet, in denen Freiwilligen Substanzen verabreicht wurden, die zu einer Verringerung des Tryptophan-Spiegels im Blut führen. Tryptophan ist eine Aminosäure, aus der der Körper Serotonin herstellen kann. Inwiefern jedoch eine vorübergehend auftretende Absenkung des Tryptophan-Spiegels zu einer verminderten Serotoninaktivität in den relevanten Gehirnarealen führt, ist nicht untersucht. Aber selbst wenn das nachgewiesen werden sollte, kann nur unter der Annahme, dass es sich bei depressiven Erkrankungen um ein monokausales Geschehen handelt, erwartet werden, dass eine Reduktion der Tryptophan-Konzentration im Serum bei freiwilligen Gesunden zu depressiven Erkrankungen führt. Insofern ist die Feststellung des Statements der BPtK, dass ein „künstlich hervorgerufener Serotonin-Mangel“ keine depressiven Symptome verursacht, eine Behauptung, die sich aus der zitierten Studie so nicht ableiten lässt.
Veränderungen bei Menschen mit depressiven Erkrankungen wurden hingegen in einigen Studien bei der mRNA-Expression des Serotonintransportergens gefunden, jedoch eher im Sinne einer verminderten Gen-Expression, was zur Folge haben müsste, dass Serotonin aus dem synaptischen Spalt langsamer wieder in die abgebende Zelle zurücktransportiert wird und es dadurch tendenziell zu einem Anstieg der Sertotonin-Konzentration im synaptischen Spalt kommt. Hierzu ist festzustellen, dass damit eine Verursachung depressiver Erkrankungen durch einen Serotonin-Mangel zwar unwahrscheinlich wird. Es kann aber nicht ausgeschlossen werden, dass die Regelsysteme des Gehirns bereits selbst mit einer veränderten mRNA-Genexpression einen Weg gefunden haben, komplexen neurobiologischen Veränderungen, auf deren Grundlage sich neben anderen Faktoren depressive Erkrankungen entwickeln, entgegen zu wirken.
Schon der Ausgangspunkt der Studie, einen Hinweis auf eine unmittelbare Verursachung depressiver Symptome in Assoziation mit dem serotonergen System finden zu wollen, erscheint fragwürdig. Hohe Evidenz wurde lediglich in den Studien gesehen, die die Serotonin-Plasma-Konzentration und entsprechende Metaboliten untersucht haben oder die Aktivität des Serotonin-Transporter-Gens sowie Interaktionen zwischen Stress und dem Transporter-Gen. Die anderen berücksichtigten Studien haben, wie die Autoren selbst ausführen, aufgrund geringer Fallzahlen oder auch methodischer Mängel (z. B. fehlende Erfassung einer etwaigen vorherigen Medikation mit Antidepressiva) einen geringeren Evidenzgrad.
Die Autoren beklagen, dass in der Öffentlichkeit der Glaube an einer Verursachung von Depressionen durch chemische Abnormalitäten u. a. des Serotoninstoffwechsels zu einer pessimistischen Erwartungshaltung der Betroffenen in Bezug auf die Prognose ihrer Erkrankung führen. Daraus wird sogar die Gefahr einer lebenslangen Abhängigkeit („lifelong dependence“) von Antidepressiva abgeleitet:
„The idea that depression is the result of a chemical imbalance also influences decisions about whether to take or continue antidepressant medication and may discourage people from discontinuing treatment, potentially leading to lifelong dependence on these drugs.“
Diese Hypothese der Autoren, dass der Glaube an eine biochemische Verursachung einer depressiven Erkrankung zu einer lebenslangen Abhängigkeit von Antidepressiva führen kann, wird durch die angeführte Literatur nicht belegt. Diese Hypothese verkennt auch, dass insbesondere depressive Erkrankungen mit schwererem Ausprägungsgrad oft einen phasischen Verlauf zeigen, was einerseits statische biochemische Prozesse als wesentliche kausale Wirkprinzipien ausschließt. Andererseits ermutigt das Wissen um einen oft phasischen Verlauf, einen Auslassversuch der antidepressiven Medikation durchzuführen. Das wird regelhaft Betroffenen angeboten.
Es ist schon seit vielen Jahren bekannt, dass die Hauptwirkung von Antidepressiva nicht durch unmittelbare Veränderungen des Serotoninstoffwechsels hervorgerufen werden, weil sich die Wirklatenz nicht durch die Annahme einer Serotoninwiederaufnahmehemmung als zentrales monokausales Wirkprinzip erklären lässt. Allenfalls die initiale antriebssteigernde Wirkung – die aber in Bezug auf Suizidalität kritisch sein kann – kann mit dem früher angenommenen Wirkprinzip unmittelbar korrespondieren. Außerdem ging man schon immer davon aus, dass eine Wiederaufnahmehemmung aufgrund des Eingriffs in einen Regelkreis wieder zu Gegenregulation mit der Folge einer verminderten Serotoninausschüttung führen müsste.
Seit einigen Jahren stehen Veränderungen der Neuroplastizität auch bei den SSRI (Selektive Serotonin-Wiederaufnahme-Inhibitoren) im Vordergrund der Diskussion des Wirkmechanismus. Allerdings ist nicht ganz klar, ob hier nicht ein Eingriff in den Serotoninstoffwechsel die verbesserte Neuroplastizität – auf welche Art auch immer – initiiert.
Dass die Neuroplastizität eine entscheidende Rolle bei der Behandlung der Depression spielt, ist aufgrund der außerordentlich hohen Wirksamkeit von Lithium bei schweren depressiven Erkrankungen bekannt. Es ist anzunehmen, dass die depressiven Grübelschleifen bis hin zum Insuffizienz- und Schulderleben Folgen der fehlenden Weiterentwicklung neuronaler Netzwerke im Gehirn sind. Mit der Unfähigkeit, neue Hypothesen aufzustellen, neue Gedanken zu denken, können auch alle vermeintlichen oder tatsächlichen „Untaten“ nicht mehr vergessen werden.
Das könnte der Grund sein, weswegen bei Kindern so gut wie keine Effekte einer Medikation mit SSRI nachzuweisen sind. Die Neuroplastizität des kindlichen Gehirns ist so hoch, dass depressive Symptome eher selten mit dessen Verlust in Verbindung stehen dürften. Die Datenlage bei Jugendlichen ist hingegen schon etwas besser, signifikante Effekte sind zumindest in einer Teilgruppe schwerer depressiv erkrankter Menschen gesichert.
Die Förderung der Neuroplastizität durch Lithium macht man sich inzwischen auch bei Verletzungen von Nervenbahnen zunutze. Ähnliche, allerdings nicht so ausgeprägte Effekte, sind auch für SSRI beschrieben.
Eigentlich müssten wir uns von der Systematik des ICD 10 insofern lösen, als wir verschiedene Formen und auch auslösende und aufrechterhaltende Bedingungen für depressive Symptome unterscheiden müssten. Bei Jugendlichen und Erwachsenen, bei denen sich fixierte rückwärtsgerichtete Grübelschleifen mit eingeengtem Denken auf wenige Inhalte finden, habe ich bisher immer zumindest unter der Kombination eines SSRI mit Lithium eine sehr schnelle Besserung gesehen. Aber die Medikation wird eben kaum wirken, wenn die depressiven Symptome eher Folge von Ich-strukturellen Besonderheiten, vermehrter Kränkbarkeit oder unzureichenden Entwicklungsbedingungen sind. Da das alles im ICD 10 in einen Topf geworfen wird und entsprechend unkritisch pharmakologisch behandelt werden kann, werden wir in entsprechenden Studien oft nur überschaubare Effekte durch die Medikation haben.
Ich finde es ärgerlich, dass die BPtK in ihrer Stellungnahme aus der Studie ableitet, dass damit der klinische Nutzen von Antidepressiva infrage gestellt werde. Das ist grob falsch und fahrlässig, folgt offenbar einem mechanistischen und monokausalen Denken. Selbst wenn in dieser Übersichtsarbeit kein Nachweis eines ursächlichen Zusammenhangs zwischen Veränderungen des Serotoninsystems und der Entstehung von Depressionen gefunden wurde, ist es eine unzulässige Schlussfolgerung, den „klinischen Nutzen von Antidepressiva“ infrage zu stellen.
Bei einem Typ-I Diabetes mellitus ist die Zerstörung der Betazellen der Bauchspeicheldrüse vermutlich durch unterschiedliche Einflussfaktoren ursächlich. Niemand würde wohl auf die Idee kommen, den klinischen Nutzen einer Insulingabe infrage zu stellen, nur weil die Insulingabe nicht auf die Ursachen der Erkrankung unmittelbar einwirkt.
In gleicher Weise ist es unsinnig und unverantwortlich, mit einer entsprechenden Analogie aus dem fehlenden Nachweis der Serotoninhypothese als Ursache depressiver Erkrankungen den klinischen Nutzen von Antidepressiva infrage zu stellen.
Zwar schließt die BPtK mit dem Fazit, dass es sich bei Depressionen meist um eine komplexe Erkrankung mit mehreren Ursachen handelt. Dem ist uneingeschränkt zuzustimmen. Hingegen wird die Behauptung, dass diese angeblich neuen Befunde den klinischen Nutzen von Antidepressiva infrage stellen, nicht zurückgenommen. Mich ärgert es, dass schon längst bekannte wissenschaftliche Erkenntnisse zum Anlass genommen werden, unzulässige Schlussfolgerungen zu ziehen und Statements in die Öffentlichkeit zu bringen, die Menschen, die von depressiven Erkrankungen betroffen sind, verunsichern. Dies geschieht auch noch in der Erwartung, damit der Psychotherapie einen Gefallen zu tun. Dieses Vorgehen polarisiert und ist nicht hilfreich.
Viel angemessener wäre es meines Erachtens, darauf hinzuweisen, dass auch psychotherapeutische Verfahren wie die kognitive Verhaltenstherapie oder das Übertragungs- und Gegenübertragungsgeschehen der psychodynamischen Verfahren als spezifische Einflussnahme auf die verlorengegangene Neuroplastizität beschrieben werden können. Auch die immer besser werdenden Evidenzen für den Nutzen sportlicher Betätigung bei depressiven Erkrankungen weisen auf einen entsprechenden Ansatzpunkt hin. Wenn wir darstellen, dass depressive Erkrankungen vermutlich keine nosologische Entität sind und es für verschiedene Färbungen der depressiven Symptomatik unter Berücksichtigung der Ich-Struktur, intrapsychischer Konflikte, besonderen Konditionierungen und unterschiedlichen Entwicklungs- und Lebensbedingungen gemeinsame, sich wechselseitig verstärkende Behandlungsansätze gibt, dann würde das Menschen mit psychischen Erkrankungen weitaus stärker als solche verunsichernden Statements dazu ermutigen, sich auch in eine psychotherapeutische Behandlung zu begeben.
(Stand 16.09.2024)
Keine Kommentare