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Plädoyer für das Recht auf Nichtwissen
- 21. August 2023
- Digitalisierung
Als ich eine bestimmte Textpassage im Referentenentwurf zum Gesundheitsdatennutzungsgesetz (GDNG) zum ersten Mal las, traute ich meinen Augen zunächst nicht. Die Sehkraft lässt im Alter ja bekanntermaßen nach. Aber der Inhalt änderte sich auch beim zweiten Lesen nicht. Daraufhin bekam ich einen gehörigen Wutanfall und konnte die Ideen der Politik mal wieder nicht fassen. Doch lesen Sie selbst, welche Rechte Krankenkassen gemäß Entwurf erhalten sollen. Entscheidende Sätze wurden fett markiert.
„Die Krankenkassen dürfen datengestützte Auswertungen zum individuellen Gesundheitsschutz ihrer Versicherten, zur Verbesserung der Versorgung und zur Verbesserung der Patientensicherheit vornehmen und insoweit ihre Versicherten individuell ansprechen. … Eine automatisierte Verarbeitung der bei den Krankenkassen vorliegenden personenbezogenen Daten der Versicherten ist ohne Einwilligung der betroffenen Person zu den … genannten Zwecken zulässig, soweit sie erforderlich und geeignet ist, zur
1. Früherkennung von seltenen Erkrankungen
2. Durchführung von Maßnahmen zur Überprüfung der Arzneimitteltherapiesicherheit zur Erkennung von Gesundheitsgefahren
3. risikoadaptierten Früherkennung von Krebsrisiken oder
4. Durchführung weiterer vergleichbarer Maßnahmen zur Erkennung und Identifizierung akuter und schwerwiegender Gesundheitsgefährdungen, soweit dies im überwiegenden Interesse der Versicherten ist
(…) Sofern … eine konkrete Gesundheitsgefährdung bei Versicherten identifiziert wird, sind diese umgehend über die bestehende Gefährdung zu unterrichten. Diese Unterrichtung ist als unverbindliche Empfehlung auszugestalten, medizinische Unterstützung eines Leistungserbringers in Anspruch zu nehmen. Die ärztliche Therapiefreiheit der Leistungserbringer wird dabei nicht berührt.”
Hier geht es um massive Grenzüberschreitungen und um die Einmischung in unsere Lebensführung!
Und ich spreche jetzt mal nicht davon, dass wir als Psychotherapeut*innen ein Lied singen können von den Einmischungen der Krankenkassen in laufende Psychotherapieprozesse. Das führt nicht nur zu Verunsicherungen der Patient*innen und damit oftmals zu Rückschritten in der Therapie, sondern stellt auch unsere Indikation und Therapiehoheit in Zweifel. Der bvvp hatte dazu zahlreiche Rückmeldungen von betroffenen Kolleg*innen und deren Patient*innen gesammelt und Krankenkassen gezielt angesprochen.
Ich spreche auch nicht von der vollkommen ungeklärten Frage, inwieweit sich Gesundheitsgefährdungen sicher aus Abrechnungsdaten ableiten lassen. Meines Wissens gibt es bisher keine validierten Prognosemodelle. Genauso wenig gibt es bei psychischen und somatischen Erkrankungen klare Kausalitäten für deren Entstehung, sondern es handelt sich immer um ein hoch komplexes und individuelles Zusammenwirken unterschiedlichster bio-psycho-sozialer Faktoren. Mit solchen „Unterrichtungen“ würden Patient*innen verunsichert und verängstigt. Menschen, die sich sowieso schon zu viel mit ihrem Körper und möglichen Erkrankungen beschäftigen, würden getriggert und in Ängste versetzt. Bekanntermaßen schwächt Angst das Immunsystem. Und auch bei allen anderen Erkrankungen können Angst und Anspannung das Krankheitsgeschehen negativ beeinflussen. Umgekehrt könnten Menschen, die sich dringend um ihre Gesundheit kümmern sollten, eine falsche Sicherheit suggeriert werden. Und ich spreche auch nicht von der schwierigen Thematik, wie zuverlässig, valide und vor allem aktuell Diagnosen sind, die in den Praxen erstellt wurden und an die Krankenkassen übermittelt werden – wie hoch also die Güte der Kodierungen ist. Hat man eine schlechte Datenbasis für Auswertungen jedweder Art, kann nichts Valides dabei herauskommen.
Nein, ich spreche von meinem höchstpersönlichen Recht auf Nichtwissen! Wenn ich etwas wissen will, dann frage ich. Und zwar nicht meine Krankenkassen, sondern die Behandelnden meines Vertrauens. Wenn mich etwas interessiert, dann recherchiere ich selbst. Und wenn ich etwas nicht wissen will, dann hat man das zu respektieren! Ich empfände es als massiven Eingriff in mein Persönlichkeitsrecht, in meinen Privatbereich, den ich bitte, gefälligst zu wahren, wenn mir meine Versicherung mitteilte, es ließen sich bei mir aufgrund der Abrechnungsdaten meiner Ärzt*innen – und gegebenenfalls auch meine*r Psychotherapeut*in – erhebliche und akute Gesundheitsgefahren ausmachen. Es fehlte jetzt nur noch, dass man dort für die Erstellung dieser Prognose noch die Auswertungen meiner Smartwatch hinzuzieht, die meinen Blutdruck misst, die täglichen Schritte zählt, meinen Schlaf überwacht und auch noch so einiges über meine Ess- und Rauschgewohnheiten zu berichten weiß.
Wikipedia definiert das Recht auf Nichtwissen als besondere Ausprägung des Persönlichkeitsrechts, das juristisch dem Recht auf informationelle Selbstbestimmung zugeordnet wird. Der deutsch-amerikanische Philosoph Hans Jonas sieht Unwissenheit als eine Vorbedingung individueller Freiheit.
Ich verwehre mich also gegen solche Übergriffe! Diese Passage im Referentenentwurf muss deshalb ersatzlos gestrichen werden. Der bvvp macht sich dafür stark! Er hat sich auch in seiner Verbandsstellungnahme und in einer Pressemitteilung entsprechend engagiert.
Ein Kommentar
Liebe Ulrike,
ich teile Deinen Wutausbruch und finde den Referentenentwurf – wenn er nicht aus purer Naivität (Nichtwissen) heraus geschrieben wurde – als Frechheit und Angriff auf die Rechte der Patientinnen sowie die Freiheit in der Arbeit der Psychotherapeutinnen.
Wenn die Patient*innen aufgrund der neuen Gesetzesänderung befürchten müssen, dass alles, was sie sagen, in die “öffentliche” Patientenakte aufgenommen wird, wird es in den Behandlungen noch schwieriger, wichtige Knackpunkte (innere Konflikte) anzuschauen, weil der Therapierahmen unsicher geworden ist. Der Referentenentwurf greift direkt den Schutzraum sämtlicher Patientinnen an, der zu schützen ist, sowie die eigenverantwortliche Arbeit aller Psychotherapeutinnen.
Besonders in Therapien, in denen es um die akute Stabilisierung, Beruhigung und Versorgung hinausgeht und es darum geht, innere und äußere Konflikte der Patientinnen zu bearbeiten, lösen die Erkenntnisprozesse und auch die wünschenswerte Neuorientierung sicherlich die ein oder andere Krise aus. Veränderungs- bzw. Entwicklungsprozesse sind nun mal für viele Menschen katastrophale Zustände. Das versteht kein Referent und vielleicht auch kein Bundesgesundheitsminister. Anders formuliert – mitten in einer OP sagt dann die Krankenkasse: “Wir müssen die OP jetzt am offenen Herzen beenden, das Skalpell beiseite legen und den Patientinnen Medikamente geben – das habe die Datenlage so ergeben.”
Aus diesem Grund ist die Arbeit in der Berufspolitik heutzutage umso wichtiger.
Danke für Dein Engagement, Deinen Scharfsinn, mal ganz genau hinzusehen und auch Deine Weitsicht.
Herzlichst, Mario
Mario Fischer – Tübingen