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„Es ist auch an uns Psychotherapeut:innen, emanzipatorische Verhältnisse zu schaffen“
- 24. Juni 2024
Stellungnahme zur Pressemitteilung des bvvp vom 15. März 2024
Die autoritäre Formierung in Europa wird immer sichtbarer und auch in Deutschland erleben wir einen massiven Rechtsruck. Auf die Enthüllungen über ein Geheimtreffen der AfD mit Akteur:innen der CDU und Unternehmer:innen gab es massiven Protest aus der Zivilgesellschaft und auch Psychotherapeut:innen haben Stellung bezogen. Der bvvp hat sich in einem Schreiben nach einer online stattfindenden Frühjahrs-Delegiertenversammlung (15. – 16. März 2024) solidarisch mit den landesweiten Demonstrationen erklärt sowie sich für eine von Offenheit und Toleranz getragene Gesellschaft ausgesprochen.
Diese Stellungnahme finde ich in weiten Teilen sehr unterstützenswert. Es fallen jedoch einige Widersprüche und Verkürzungen ins Auge, die meiner Einschätzung nach aus einem verkümmerten Politikverständnis erwachsen, welches in der Psychotherapie leider häufig anzutreffen ist. Dieses führt zu einer Unfähigkeit schlagkräftiger Äußerungen in Bezug auf den Rechtsruck. Auf Grundlage der Stellungnahme würde ich daher gerne einige Thesen über Psychotherapie im Kontext des aktuellen Rechtsrucks aufwerfen, den wir auch im (psychologischen) Wissenschaftsbetrieb beobachten.
Die Problematik des allgemeinen Radikalisierungsbegriffs
Die Überschrift des Papers, mit der sich ganz allgemein gegen „Radikalisierung“ ausgesprochen wird, bereitet der sogenannten „Extremismustheorie“ (Backes & Jesse, 2001) Vorschub. Ihr vulgäres Verständnis suggeriert, dass die tatsächlich vorhandenen starken qualitativen Unterschiede zwischen linken und rechten Strömungen der Gegenwart nicht existieren (vgl. Pfahl-Traughber, 2022). Das Bild von den politischen Extremen, die sich auf dieselbe Art von der freiheitlich-demokratischen „guten Mitte“ entfernen und sich in ihren Enden wieder berühren ist intuitiv einleuchtend, aber für die Erfassung der politischen Realität schlichtweg ungeeignet. Es negiert den Unterschied zwischen einer Gesellschaftskritik, die auf eine unzureichende Verwirklichung proklamierter demokratischer Ansprüche abzielt und menschenverachtender Ideologie, die diese Ansprüche grundsätzlich in Frage stellt.
Letztlich ist die Überschrift noch ein Rückfall hinter dieses problematische Extremismusmodell. Denn das Modell kategorisiert „radikal“ prinzipiell noch als „demokratisch legitim“. Warum „Radikalität“ also das Problem sei, wäre noch nicht einmal mit dieser Extremismustheorie begründbar. Wir Psychotherapeut:innen sollten uns hüten, diese Verkürzungen zu übernehmen und stattdessen eine differenzierte Analyse des politischen Geschehens vornehmen. Daraus müsste folgen, dass in der Stellungnahme nicht allgemein von „menschenverachtenden Initiativen“ gesprochen werden sollte, sondern es sollte klargemacht werden, dass damit explizit rechte Ideologie gemeint ist und sich die erwähnten Demonstrationen konsequenterweise gegen den Prozess der autoritären Formierung richten. Auch sollte aus dieser Erkenntnis die Klarstellung folgen, dass faschistische Orientierung (auch) von Einzelpersonen ein Grund für den immer stärker beobachtbaren Rechtsruck in der Gesellschaft ist. Wenn nun Menschen „komplett unabhängig von ihrer politischen Orientierung“ behandelt werden sollten, tut sich ein entpolitisierendes Spannungsfeld auf.
Entpolitisierung in der Psychologie
Dieses Spannungsfeld und den Grund dafür, dass die aktuelle Psychotherapie dazu neigt, derart entpolitisierenden Mustern anheim zu fallen, möchte ich im Folgenden erläutern: Das Menschenbild der aktuellen Psychologie ist nach wie vor von einer individuumszentrierten biomedizinischen Perspektive geprägt, die Ursachen für das Leiden von Menschen in diesen selbst verortet (C. I. Cohen, 1986). Aus dieser Perspektive spielt es eine untergeordnete Rolle, welche gesellschaftlichen Entwicklungen Menschen prägen und wieso (rechte) Einstellungen problematisch sind, auch wenn sie nicht unmittelbar Leiden auslösen.
Gegen diese Art, den Menschen zu betrachten, gab es immer Widerstand: Schon die antipsychiatrische Bewegung in den 1970er Jahren hat gegen dieses Menschenbild und für eine soziale Perspektive im Gesundheitswesen gekämpft, um die politischen Verhältnisse in die Praxis einzubeziehen (Foucault, 2022; Lauff, 2020). Denn der gesellschaftliche Zustand verankert sich in unseren Wünschen und Bedürfnissen. In Emile Durkheims Studie »Der Selbstmord« von 1897 oder in der Studie „Das Elend der Welt“ von Pierre Bourdieu wurde gezeigt, dass gesellschaftliche Lebensbedingungen für Wohlbefinden oder Leiderfahrungen von Individuen zentral sind. In jüngerer Zeit ist nachgewiesen worden, dass soziale Ungleichheit einen erheblichen Einfluss auf die Gesundheit hat (Lampert, 2016; Sting, 2000), soziale (Des-)Integration das psychische Leiden positiv oder negativ beeinflussen kann (Sommerfeld et al., 2011).
Mit dieser Perspektive kann der aktuelle Rechtsruck als genuin psychologisches Feld begriffen werden, da dieser soziale Ungleichheit und soziale Desintegration fördert. Auch von Psychotherapeut:innen muss er daher konsequent bekämpft werden. Schon Fromm (1941) beschäftigte sich mit den Auflösungen traditioneller Bezüge im Zuge des sich entwickelnden Kapitalismus und deutet sie unter anderem als Bedingung der Möglichkeit des nationalsozialistischen Terrors. Auf die durch den momentan beobachtbaren Strukturwandel hervorgebrachten und von vielen als krisenhaft wahrgenommenen Phänomene, kann als Reaktion unter Umständen eine „Wiederkehr des Autoritären“ (Mitte-Studien – Friedrich-Ebert-Stifung, 2023) als Abgrenzungsmechanismus entstehen.
Was also tun?
Fromm (1991) als auch Laing und seine Kolleg:innen in der Antipsychiatrie waren der Ansicht, dass eine Form der „moralischen Veränderung“ des Einzelnen erforderlich sei, um eine bessere Gesellschaft zu schaffen, was darauf hindeutet, dass therapeutische Interventionen unumgänglich sind (vgl. Sedgwick 1982). Als Psychotherapeut:innen müssen wir Vernunft als Maßnahme gegen die autoritäre Formierung fördern und aktiv eingreifen, wenn sich etwas ihrer Ausbildung im Weg steht. Der Wille zur Verwirklichung der Vernunft ist gleichzeitig – im Sinne von K. Popper – der Wille zur Verwirklichung einer „offenen Gesellschaft“. Letzterer bedeutet wiederum der Wille zur Veränderung jener politischen und sozialen Verhältnisse, die der Verwirklichung einer offenen Gesellschaft im Wege stehen. Und der offenen Gesellschaft steht der Faschismus im Weg. Und die zunehmenden faschistoiden Tendenzen schlagen sich in den Einstellungen von Einzelpersonen nieder. Dazu schreibt Foucault im Vorwort zu Deleuze und Guattaris Anti-Ödipus klar: „Der Hauptfeind, der strategische Gegner ist der Faschismus […] Und nicht nur der historische Faschismus, der Faschismus Hitlers und Mussolinis, der das Begehren der Massen so wirkungsvoll zu mobilisieren und zu nutzen verstand, sondern auch der Faschismus in uns allen, in unseren Köpfen und in unserem alltäglichen Verhalten, der Faschismus, der uns dazu bringt, die Macht zu lieben, eben das zu begehren, was uns beherrscht und ausbeutet (Foucault, 1983, S. xiii)
Der Fluchtpunkt einer Psychotherapie müsste damit der kategorische Imperativ sein, „alle Verhältnisse umzuwerfen, in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist“ (Marx, 1971, S. 10). Es ist auch an uns Psychotherapeut:innen, emanzipatorische Verhältnisse und die Möglichkeit einer gesellschaftlichen Assoziation zu schaffen, „worin die freie Entwicklung eines jeden die Bedingung für die freie Entwicklung aller ist“ (Marx/Engels, 1848, MEW 4, S. 482). Nur mit diesem Fokus kann eine Psychotherapie wirksam und schlagkräftig gegen den aktuellen Rechtsruck vorgehen!
Zur Pressemitteilung des bvvp: PM zur Resolution gegen Radikalisierung
Ein Kommentar
Lieber Julian Dicks, vielen Dank für diesen Beitrag. Sie sprechen mir aus dem Herzen. Liebe Grüße, Heike Ludwig