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Was ist Sucht und was macht sie mit meinem Kind?

von Bernd Aschenbrenner
  • 11. September 2024

Kürzlich wurde unter dem Titel: „Prävention stärken – Kinder mit psychisch oder suchtkranken Eltern unterstützen“ (02.07.2024) der Antrag der Fraktionen SPD, CDU/CSU, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und FDP vorgestellt. Eine Unterstützung dieses wichtigen Themas scheint absolut notwendig. So ist dem Antrag zu entnehmen, dass von der Problematik der Eltern die Kinder mitbetroffen sind und fast jedes vierte Kind mit diesem Problemfeld zu tun hat, beziehungsweise in einem solchen aufwächst. Weiter ist darin zu lesen, dass Kinder, die mit suchtkranken Eltern aufwachsen, ein drei- bis vierfaches Risiko haben, selbst eine psychische Erkrankung zu entwickeln. Dem Antrag zufolge trage die gesamtgesellschaftliche Entwicklung dazu bei, psychische Erkrankungen zu fördern. Hier sind Faktoren zu nennen wie die Aus- und Nachwirkungen der Pandemie, in deren Verlauf Kinder und Jugendliche mitunter zu den ungeschütztesten Gruppen zählten.

Suchterkrankungen sind sicherlich eine spezielle Problematik, zeigen sie doch auch stets auf, was die Gesellschaft wissen möchte und was sie jeweils verdrängt. In der vorgestellten Statistik wird dann auch ein großer blinder Fleck erkennbar, was die Schätzung der Dunkelziffern in verschiedenen soziologischen Milieus betrifft.

Unsere Gesellschaft ist von Alkohol bestimmt und er ist Teil unserer Kultur. Nun ist ebenfalls seit diesem Jahr Cannabis ein weiteres Suchtmittel, das in der Jugendkultur und in breiter gewordenen Subkulturen schon lange einen festen Platz hat und nun legal zu konsumieren ist. Gerade in der Kinder- und Jugendlichenpsychotherapie tritt beides schon längst auf, nicht zu schweigen von der Vielzahl anderer Betäubungsmittel, die hier nicht alle genannt werden können und wohl eher in stationären Ambulanzen als in ambulanten Praxen zum Thema werden.

Gegen die legalen Suchtmittel als Genussmittel soll hier nicht moralisiert werden, jedoch ist es ein schmaler Grat zwischen Genuss und Sucht. Auch hochstrukturierte Eltern sind nicht davor gefeit, an diesem Rand die Balance zu verlieren. Das gängige Bild von prekären und beispielsweise in beengten Verhältnissen lebenden Familien als Orten, an denen Sucht häufig gedeiht, mag zwar kein Vorurteil sein, doch Sucht ist nicht nur dort zu Hause.
Ich wurde in meiner klinischen Arbeit viel mit diesem Thema konfrontiert. Es fiel auf, dass Kinder und Jugendliche häufig bei Eltern unter Suchtproblematiken leiden, die „funktionieren“, gesellschaftlich anerkannt sind, in Beziehung stehen und dergleichen Attribute mehr aufweisen.
Der psychotherapeutische Umgang mit dieser Form der Sucht oder des schädlichen Missbrauchs von allgemein anerkannten psychotropen Substanzen ist kein klar definiertes Feld, weder in der Richtlinienpsychotherapie, noch stationär, selbst wenn eine Suchtdiagnose klar vergeben wird. Gerade diejenigen, die sich nicht freiwillig oder aufgrund sozialer Unausweichlichkeiten einer Behandlung unterziehen, sind ein besonderes Risiko für ihre Kinder. Sie fallen in ihrem sozialen Umfeld nicht auf und sind oft nicht bereit, sich helfen zu lassen. Aber was macht das mit den Kindern?

Gerade Konzepte wie das der „toten Mutter“ des französischen Psychoanalytikers André Green (1980) zeigen, wie die Wirkung von Eltern, die auf ihre Eltern „wie tot“ oder im hiesigen Sinne „berauscht“ erscheinen, direkten Einfluss auf die innere Entwicklungswelt ihrer Kinder haben. Greens Konzept dreht sich um eine depressive Mutter, die das Kind nicht ausreichend spiegelt, sodass es sich seiner lebensnotwendigen Zuwendung nicht sicher sein kann und keine Objektkonstanz entwickelt. Das kann man leicht auf ein suchtkrankes Elternteil erweitern. Die psychotropen Substanzen vernebeln nicht nur einem selbst die Sinne, sondern eben auch die Beziehung zum Kind und dessen innerpsychisches Erleben. Wenn ich nicht weiß, was mit meinem Vater los ist, wenn er sich betrunken hat und sein Verhalten sich so sehr von dem unterscheidet, wie ich ihn sonst kenne, hat das direkten Einfluss auf die psychische Entwicklung. Lassen wir physische oder emotionale Gewalt hier einmal außen vor. Gerade über die Mentalisierungstheorie, die wir in unserer Praxis mit den Patient*innen immer wieder anwenden, damit sie ihr inneres Erleben mit der äußeren Realität und dem Erleben der Anderen abgleichen können, wird es offenkundig: Ein unter Alkohol- oder Cannabiseinfluss stehendes Elternteil und dessen Handlungen und Gefühlswelten lassen sich nicht mit der Person vergleichen, die Kinder und Jugendliche nüchtern erleben. Dabei haben Kinder, insbesondere gegenüber ihren Eltern, so sensible Antennen, dass sie sehr schnell selbst in die Parentifizierungsfalle geraten, da hinter jeder Sucht ja andere psychische Probleme wie Depression oder Angst stehen.

Da das Thema noch weit mehr gesellschaftlichen Raum verdient, begrüße ich den Antrag der Fraktionen unbedingt und betrachte das Anliegen als hochrelevant. Auf allgemeine Aufklärung hierzu ist zu hoffen, gerade auch, um präventiv tätig werden zu können. Medial bleibt das Thema – trotz kleiner Fortschritte – nach wie vor ein Randthema, eines, bei dem man lieber weghört. Der sensible Roman „22 Bahnen“ (2023) von Caroline Wahl ist hier als Lektüre sehr zu empfehlen, wie auch die gerade erschienene ZDF-Dokumentation in der Reihe „37 Grad“ mit dem programmatischen Titel „Vergessene Kinder: Nicolas‘ Weg aus einer Suchtfamilie“ (2024).

Fakt ist und bleibt: Sucht verändert nicht nur die Beziehung zu einem selbst, sondern auch diejenige zum eigenen Kind – und dessen eigene Beziehungsfähigkeit. Was ist notwendig: fortwährende Aufklärungsarbeit und ein ausreichendes Angebot „früher Hilfen“. Zudem muss die Phase, in der die Grenze zwischen Genuss und Sucht überschritten wird, entstigmatisiert werden, sonst bleibt das Problem virulent.

Autor*in

Bernd Aschenbrenner

Dr. phil. Bernd Aschenbrenner ist Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeut, mit den Fachkunden Analytische und Tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie.
Er ist Sprecher des Jungen Forum des bvvp und stellvertretender Vorsitzender im Bundesvorstand. Er hat ein abgeschlossenes Studium der Bildungswissenschaften sowie Literatur- und Medienwissenschaften. Außerdem ist er Bezirkssprecher in Nordbaden im bvvp-BW.

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Ein Kommentar

Isabella Manuela Torelli
  • 18. September 2024 um 15:23 Uhr

Bei der Lektüre dieser sehr zutreffenden Arbeit fallen mir fünf meiner Patient*innen ein, die In ihrer seelischen Entwicklung damit kämpfen, mehr oder minder Suchtkranke Eltern zu haben. Die Ablösung und das sich herausarbeiten aus der Parentifizierung und dem Mitgefühl mit dem jeweiligen Elternteil, bedarf eines guten Containing in der Behandlung und der Betonung einer gesunden Selbstbezogenheit und Fürsorge für sich selbst.