bvvp - Blog

Welche Fragen treiben Psychotherapeut*innen gerade um? Was müssen sie wissen, wenn sie in den Beruf starten – oder in Zeiten des beruflichen Umbruchs? Unsere bvvp-Blogautor*innen schreiben über alle brisanten Themen – und sind dabei mit Ihnen im Dialog. Einfach im Mitgliederbereich anmelden und mitdiskutieren!

Namentlich gekennzeichnete Blogartikel geben nicht unbedingt die Meinung des bvvp-Bundesvorstands oder der Homepageredaktion wieder.

Probleme medialer Vermittlung und von Digitalisierung anhand von Familieninfluencer*innen und der elektronischen Patientenakte

von Bernd Aschenbrenner
  • 30. Oktober 2024

Kommentar von Dr. Bernd Aschenbrenner zum vorangehenden Blogtext.

Die Überlegungen von Frau Dr. med. Eberhardt-Rittmann zum Thema der Familieninfluencerinnen trafen mich zunächst im berufspolitischen Kontext eher unvorbereitet. Dadurch angeregt, hat mich schon der Gedanke betroffen gemacht, in welchem Umfang wir die Darstellung von Familienleben, inklusive dem von minderjährigen Kindern, als unproblematisch und alltäglich hinzunehmen gewohnt sind. Ob auf TikTok, Youtube, Facebook oder Instagram, Reels – kurze Filmsequenzen – omnipräsent. Man konsumiert die kleinen Filmchen in der Bahn, in der Pause oder auf dem Sofa. Meist überlegt man gar nicht, was man da sieht. Teils zeigen uns auch Patientinnen solche Reels, mit denen sie uns ihre Welt näherzubringen versuchen. Und hier beginnt natürlich für uns Psychotherapeutinnen die Frage, in welchen psychischen Welten sich die Patientinnen über die digitale Welt bewegen und damit auch die, bei wen eigentlich die Rechte am Foto oder filmischen Abbild liegen, beziehungsweise ob das Gezeigte überhaupt in Übereinstimmung mit dem Willen der gezeigten Personen geschieht?

In Bezug auf Kinder, Jugendliche und deren Familien ist die Sachlage besonders sensibel. Laut Jugendschutzgesetz (JuSchG) gibt es zum Beispiel unter Abschnitt 3 §11 klare Regelungen bezüglich der Auftrittszeiten bei Filmveranstaltungen und innerhalb etablierter Medien, die dazu führen, dass Verstöße auch tatsächlich geahndet werden. Die Frage der Kinder- und Jugendarbeit regelt wiederum das Jugendarbeitsschutzgesetz (JArbSchG). Dort sind im zweiten Abschnitt unter §6 in einem Text die Ausnahmen geregelt, der vereinfachend gesagt beinhaltet, dass bei Theater-, Musik- und Werbeaufführungen Kinder über 6 Jahren bis zu 4 Stunden am Tag arbeiten dürfen, Kinder zwischen 3 und 6 Jahren nur 2 Stunden. Dies alles in definierten Tageszeiträumen. Für Kinder unter 3 Jahre gibt es keine Regeln, was einem Verbot entspricht. Was aber ist im Feld der Familiendarstellung erlaubt? Es ist kein Geheimnis, dass in den sozialen Netzwerken Reels existieren, die Kinder unter 3 Jahren zeigen. Auch insgesamt scheinen hier Regeln nicht kontrollierbar zu sein, denn die Produktion geschieht ganz überwiegend im privaten Umfeld. Die Kinder sind zu Hause zu sehen, liegen im Bett, sind in ihren Spielzimmern, in den Küchen, Gärten, Autos oder in Einkaufszentren zu sehen, die ihre Eltern aufsuchen. Bekannte Videos zeigen Babys, die beim Schlafen gefilmt werden, wie sie aufgeweckt werden, wie sie essen, tanzen, etc. Diese Art der „privaten“ Darstellung ist über die gesamte Altersentwicklung hinweg zu beobachten.

Frau Eberhardt-Rittmann spricht in diesem Sinne von „Serien“ und das ist genau das, was von Familieninfluencer*innen produziert wird. Hier wird eine psychische Problematik sichtbar, die dadurch entsteht, dass Kindern keine „ungeteilte“ Aufmerksamkeit zuteilwird, wenn sie im medialen Spannungsverhältnis zwischen Handykamera, inszenierter Elternschaft und geteilter unbekannter Zuschauerschaft dargestellt werden. Man kann auch den Begriff der Identitätsdiffusion nennen, da Kinder- und Jugendliche ihr Selbstbild in Bezug auf das Bild der Eltern und das der Zuschauer nicht stabil aufbauen können. Hier passt auch der Verweis auf die Situation von Kindern, deren Eltern Rauschmittel konsumieren. Auch diese Eltern, wie auch die inszenierenden Medieneltern, vermitteln ihren Kindern in der theatralischen Inszenierung wichtiger Lebensereignisse, wie von Geburtstagen, Festen, der Einschulung, ein Bild, das nicht mit dem realen Bild übereinstimmt. Bei einer solchen öffentlichen Verwendung seiner selbst und seiner Familie kann man schon von einer Form der Mediensucht sprechen. Die Überwachung bei sozialen Medien ist im Gegensatz zu Filmproduktionen jedoch nicht überprüfbar. Eine künstlerische Verarbeitung des Themas findet man zum Beispiel in dem gelungenen Kurzfilm „Nellys Story“, in dem das Kind, das zur Mitwirkung am Geburtstagsfilm gezwungen wird, in Reaktion darauf gegen die Mutter rebelliert und einen Ausnahmezustand provoziert, der von der Mutter dann letztlich doch wieder medial ausgeschlachtet wird.

Doch abschließend möchte ich noch eine berufspolitische Drehung machen von dieser problematischen Form einer verlorenen Privatsphäre hin zur aktuellen Debatte um die elektronische Patientenakte. Denn hier muss man der Nutzung sensibler Daten von Kindern und Jugendlichen im sogenannten Opt-out-Verfahren erst einmal aktiv widersprechen, damit diese nicht automatisch in die Akte eingestellt werden. Auch hier wird das Spannungsverhältnis zwischen Schutzbedürftigkeit und Selbstbestimmungsrecht von Kindern und Jugendlichen als Heranwachsenden, später gänzlich eigenständigen Subjekten nicht vollständig mitgedacht, weshalb ich klar dafür votiere, dass bis zum Alter von 18 Jahren in die elektronische Patientenakte keine Daten eingestellt werden sollten. Abzuwägen ist dies nur bei komplexen physischen Erkrankungen. Die Probleme die durch eine möglichen Bekanntwerdung der sogenannten F-Diagnosen zum Beispiel zwischen getrenntlebenden, und aufgrund von Sorgerechtstreitigkeiten zerstrittenen Eltern entstehen können, sind nicht abzusehen. Die Offenlegung psychischer Erkrankungen ist geeignet, diese Patientinnengruppe extrem zu stigmatisieren. In dem Sinne würde ich fragen wollen, ob mit der elektronischen Patientenakte nicht auch eine Tür geöffnet wird für Missbrauch und verzerrte Wahrnehmungen von Kindern und Jugendlichen. Denn die Akte kann von Behandelnden eingesehen werden und auch unter Ärzten gibt es bekannterweise Vorurteile und Falschwahrnehmungen, die dazu führen können, dass die jugendlichen Patientinnen am Ende nicht ausreichend geschützt werden und ein verzerrtes Bild von ihnen nach außen tritt. Es ist nicht von ungefähr, dass F-Diagnosen auch im kinderärztlichen Bereich öfter mal leichtfertig vergeben werden, ohne dass die Patient*innen psychotherapeutisch oder psychiatrisch gesehen und Diagnosen dezidiert fachlich abgeklärt werden.

Wollen wir das Agieren von Familieninfluencer*innen als hochproblematisches und nicht geregeltes Feld unserer Realität begreifen, müssen wir uns mit der Digitalisierung als medialem Vermittlungsproblem in genau diesem Sinne ebenfalls auseinandersetzen. Sämtliche medialen Felder setzen eine unbedingt notwendige Medienkompetenz bei allen beteiligten Parteien voraus. Das gilt in gleichem Maße für die elektronische Patientenakte. Diese bietet zwar Vorteile, gerade in Bezug auf die Informationsvermittlung im Rahmen der Behandlung chronisch erkrankter Menschen, doch auch hier braucht es ganz klare Regelungen bezüglich des Umgangs mit den Gefahren, um die Persönlichkeit der Kinder und Jugendlichen zu schützen. Der französische Philosoph Roland Barthes brachte diese mediale Problematik anhand der Fotographie treffend auf den Punkt: „Privatsphäre ist nichts anderes als jene Sphäre, in der ich kein Bild bin. Verteidigen muss ich mein Recht, ein Subjekt zu sein.“ (Roland Barthes. Die helle Kammer. Frankfurt am Main. Suhrkamp 1985).

Über den Autor

Bernd Aschenbrenner

Dr. phil. Bernd Aschenbrenner ist Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeut, mit den Fachkunden Analytische und Tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie.
Er ist Sprecher des Jungen Forum des bvvp und stellvertretender Vorsitzender im Bundesvorstand. Er hat ein abgeschlossenes Studium der Bildungswissenschaften sowie Literatur- und Medienwissenschaften. Außerdem ist er Bezirkssprecher in Nordbaden im bvvp-BW.

Alternative Text

Keine Kommentare