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Psychoanalytische Überlegungen zur Situation der Kinder bei Familieninfluencer*innen

- 30. Oktober 2024
Über Terre des Hommes habe ich von Familieninfluencer*innen erfahren. Das sind Menschen, die ihr Familienleben in Social Media-Kanälen online stellen und damit Follower generieren. Mit Werbung, plaziert in Bildern des Familienlebens, kann zusätzlich Geld verdient werden. Die Kinder dieser Familien leben in der Öffentlichkeit und arbeiten auf diese Weise mit. Rein rechtlich handelt es sich dabei in Deutschland um Kinderarbeit, beziehungsweise um Mitarbeit im Familienunternehmen, was, wie zum Beispiel in der Landwirtschaft, in Grenzen zulässig ist.
Es stellt sich nun die Frage, ob der Schutz der Kinder über die juristische Position zur Kinderarbeit ausreichend erfasst und gewährleistet ist. Nachdem die Vereinten Nationen gerade Kinderrechte in die Charta der Menschenrechte aufgenommen haben, soll es der Charta folgend in der weltweiten Öffentlichkeit nun auch unter anderem um das Kinderrecht auf Identität, Entwicklung, Wohl, Gesundheit und Privatsphäre gehen.
Alle diese Rechte sehe ich in den Familien der FamilieninfluencerInnen aus psychoanalytisch-entwicklungspsychologischer Sicht als verletzt an.
Die Kinder haben im Familienleben unbekannte, aber auch ungewollt bekannte Zuschauer, wenn sie aufstehen, sich an- oder ausziehen, frühstücken, Zähne putzen oder nicht Zähne putzen, beim Streiten, Meckern, in den Kindergarten oder zur Schule gehen, beim Heimkommen von der Schule und über Hausaufgaben oder Noten reden, wenn sie lernen, verstehen oder nicht verstehen, spielen, baden. Während des gesamten Tagesablaufs ist es möglich, dass sie beobachtet werden. Ihnen stehen Eltern gegenüber, die wissen, dass ihre Antworten, Reaktionen, Verbote – alle ihre Verhaltensweisen – von einem großen Publikum gesehen und bewertet werden. Von Privatsphäre kann keine Rede sein.
Man kann davon ausgehen, dass es den Influencer*innen in ihren „Serien“ darum geht, sich attraktiv für die Zuschauer zu zeigen, denn diese sollen weiterhin zuschauen und die Werbeeinnahmen sollen sprudeln. Sie werden sich so verhalten, dass die Serie interessant und spannend wird. Doch mit welchen Eltern haben es die Kinder dann zu tun?
Die Entwicklung des Selbstgefühls eines Kindes hängt davon ab, inwieweit die Bezugspersonen adäquat – das heißt, dessen innerer und äußeren Situation entsprechend – reagieren. Das werden Eltern, die Effekte liefern wollen, nicht tun. Es ist zu befürchten, dass sie es auch nur begrenzt können, denn mit Empathie würde man sein Kind vor dieser Öffentlichkeit schützen wollen. Das Kind wird erleben, dass Mutter/Vater nicht „bei ihm“, sondern woanders sind. Vier- bis Sechsjährige und Schulkinder werden wissen, dass die Familie „auf Sendung“ ist. Was ist dann echt? Was ist Täuschung? Tun Mutter/Vater nur so oder meinen sie wirklich, was sie zeigen? Sind ihre Gefühle echt?
Unter den Followern können Lehrerinnen, Nachbarn, Trainerinnen oder Klassenkamerad*innen sein. Streitigkeiten, Ärger, Strafen in der Familie werden allen präsentiert, was zusätzlich demütigend und beschämend sein mag. Andererseits verführen positive Rückmeldungen zur Wiederholung und Verstärkung von kindlichem Verhalten, das ja vielleicht auch nicht echt sein könnte, wenn es durch Manipulation entstanden wäre. Durch die Exhibition im Netz wird die Selbstentwicklung des Kindes einer künstlichen Beeinflussung ausgesetzt. Künstlich deshalb, weil das Familienleben in der Darstellung online als ein Kunstprodukt aufgrund von Absichten und Manipulationen der Eltern in Bezug auf ein Publikum entsteht. Donald Winnicott hat in einer 1960 veröffentlichten Schrift vom „Falschen Selbst“ gesprochen, welches das Kind durch Anpassung als „Lösung“ seiner Konflikte unter problematischen Bedingungen entwickelt. Dieses „Falsche Selbst“ erscheint harmlos gegen die Selbst-Verwirrung, die für ein Kind in der oben beschriebenen Welt von Öffentlichkeit, potentieller Täuschung und inszeniertem Effekt entsteht. Welch einen Druck übt die Community auf das Überich und das Ich-Ideal des Kindes aus?
Es sind in jedem Fall deutliche negative Wirkungen auf das Selbsterleben, also narzisstische Störungen zu erwarten. Das bedeutet auch Störungen innerhalb von Beziehungen, Störungen im emotionalen Bereich, Depressionen aufgrund einer leeren inneren Welt, die irgendwann kein Publikum, keine Bedeutung mehr hätte und in der es keine ausreichend guten inneren Objekte – verinnerlichte vertrauenswürdige Eltern –- gäbe. Auch eine Begünstigung psychotischer Störungen unter diesen Bedingungen ist denkbar.
Kindesmisshandlung und sexueller Missbrauch von Kindern und Abhängigen sind strafbar. Die Gesellschaft und der Gesetzgeber müssen die Folgen der neuen Medien und ihrer Möglichkeiten für Kinder aufmerksam in den Blick nehmen. Selbst Kinder, die dem Streaming zustimmen würden, sind abhängig von den Eltern, möchten auch unbewusst deren Interessen bedienen und erfassen nicht die beschriebenen weitreichenden Folgen für die Entwicklung ihres Selbstgefühls und ihrer Persönlichkeit.
Ich bin deshalb der Meinung, „Familieninfluencing“ muss als Missbrauch der kindlichen und jugendlichen Privatsphäre und als entwicklungsschädigend gesehen und verboten werden.
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