bvvp - Blog
Welche Fragen treiben Psychotherapeut*innen gerade um? Was müssen sie wissen, wenn sie in den Beruf starten – oder in Zeiten des beruflichen Umbruchs? Unsere bvvp-Blogautor*innen schreiben über alle brisanten Themen – und sind dabei mit Ihnen im Dialog. Einfach im Mitgliederbereich anmelden und mitdiskutieren!
Namentlich gekennzeichnete Blogartikel geben nicht unbedingt die Meinung des bvvp-Bundesvorstands oder der Homepageredaktion wieder.
„Es geht um Luis“ – Rezension eines Filmdramas von Lucia Chiarla

- 12. Februar 2025
Als Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeut arbeitet man tagtäglich mit jungen Menschen, die in der Schule gemobbt werden, Gewalt erfahren, aber auch Gewalt ausüben. Sich inmitten der verschiedenen Perspektiven der Schule, der Eltern und des Kindes zu orientieren, ist kein einfaches Unterfangen und die vorliegende Situation für das Kind oder den Jugendlichen daraufhin zu bewerten, ein schmaler Grat. Was ist die Wahrheit mit Blick auf das Geschehen? Wie ist hier der psychotherapeutische Auftrag zu verstehen? Liegt eine psychische Diagnose vor? Und wie könnte hier adäquat geholfen werden?
Die Regisseurin Lucia Chiarla hat in ihrem zweiten Spielfilm „Es geht um Luis“, der am 23. Januar 2025 in die deutschen Kinos gekommen ist, genau diese Problematik untersucht. Das von ihr verfasste Drehbuch basiert auf dem Theaterstück „Das kleine Pony“ des spanischen Dramatikers Paco Bezerra. Der Grundkonflikt der Geschichte entzündet sich am 10-jährigen Luis, der aufgrund eines lilafarbenen Schulrucksacks mit glitzerndem Einhornmotiv in der Schule gemobbt wird. Seine Eltern Jens und Constanze versuchen, die Situation zu klären. Die Schule empfiehlt daraufhin einen anderen Rucksack. Doch die Identität von Luis ist stark, er behauptet und wehrt sich, und bald eskalieren die Ereignisse in einer leider oft vorkommenden Gewaltspirale bis zum Äußersten.
So einfach die Story ist, so komplex sind die damit verwobenen Spannungsfelder. Dreh- und Angelpunkt sind die Sorgen von Jens und Constanze, die als Eltern versuchen, den Konflikt, in dem ihr Kind verstrickt ist, neben all ihrem Arbeitsstress zu lösen, und dabei sowohl aneinander geraten als auch sich einander annähern. Lucia Chiarla inszeniert die Auseinandersetzung zwischen den beiden Protagonisten in einer Art Roadmovie-Kammerspiel, was den Film ungewöhnlich und in seiner intensiven Dialogführung anspruchsvoll macht. So findet beinahe der ganze Film in dem Taxi von Vater Jens statt oder in dessen Nähe. Grund dafür ist, dass er angesichts der großen Konkurrenz des Billiganbieters EasyLane finanziell so unter Druck steht, dass er auch nachts Schichten übernehmen muss, um den Job zu halten. (Kapitalismuskritik und die Verbindung zu einem bekannten realen Dienstleistungsmonopol lassen grüßen!) Constanze, die Mutter von Luis, arbeitet hingegen als festangestellte Architektin in einem Büro. Weil sie eine gute Position innehat, ist sie dazu gezwungen, Überstunden zu machen, selbst dann, wenn dadurch das gemeinsame Familienwochenende leidet, was auch auf die Nachtfahrten von Vater Jens zutrifft.
Bei dem vorliegenden Mobbingfall erscheint es denkbar, dass die Eltern Luis in einer kinderpsychotherapeutischen Praxis vorstellen. Jens und Constanze würden dann in Begleitung ihres Sohnes in der Sprechstunde den Grundkonflikt darlegen: Luis wird in der Schule aufgrund seines „mädchenhaft“ zugeschriebenen Schulranzens gemobbt und leidet darunter, nicht er selbst sein zu können. Hinzu kommen Symptome wie Traurigkeit, Schlafprobleme, Leeregefühle, eine länger verschleppte Identitäts- und womöglich Selbstwertproblematik sowie der Wunsch, sich in unserer heutigen doch liberalen Gesellschaft nach eigenen Maßstäben zu entwickeln. Der Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeut würde diagnostisch vielleicht zu einer Emotionalen Störung des Kindesalters tendieren: Eine Anpassungsstörung, aber auch eine Störung des Sozialverhaltens mit depressiver Entwicklung würde bei einer Untersuchung von Luis infrage kommen.
Eine Empfehlung bezüglich des Rucksacks könnte man Luis und seinen Eltern gewiss nicht geben, verbieten würde ich ihn sicher nicht. Wäre ein Schulwechsel angebracht? Vielleicht. Aber reicht eine erste psychotherapeutische Sprechstunde denn schon aus, um solche Schlussfolgerungen zu ziehen? Sicher nicht. Fakt ist, dass es sich bei solchen Fällen, wie dem von Luis, um komplexe Phänomene handelt, die von einer möglichen Erkrankung bei den Indexpatient*innen, den Erwartungen, Einstellungen und Werten der Eltern und denen verschiedenartiger Schul- und Sozialsysteme geprägt sind. Sicherlich würde nicht jeder Rektor raten, den Rucksack auszutauschen, denn letztlich entzündet sich an diesem, wie im Film zu sehen ist, nur der Konflikt. Meist geht es nicht um das konfliktauslösende Objekt, sondern um die angespannte Dynamik (bestehende Werte-, Gruppen-, Macht/Ohmacht-Konflikte) zwischen den einzelnen Systemen, die in den Fall involviert sind.
Übrigens erscheint es im weiteren Verlauf des Filmes so, als es ob es gar nicht um einen festzustellenden Krankheitswert von Luis geht, der dort als ‚Opfer‘ fungiert, sondern um denjenigen des Täters, der womöglich selbst an einer Störung des Sozialverhaltens leidet und Luis gerade wegen seiner mit Selbstbehauptung einhergehenden starken Identität als Opfer auserwählt hat. Angesichts eines fiktiven Films ist dies natürlich alles nur Spekulation– wenn auch nicht ganz, denn das Theaterstück, das die Grundlage für den Film bot, basiert auf dem realen Fall des US-amerikanischen Jungen Michael Morones. Er soll aufgrund seiner Mobbingerfahrungen wegen seiner Vorliebe für die Spielzeugserie „Mein kleines Pony“ einen Suizidversuch begangen haben und wenige Jahre später an den Folgen verstorben sein. Die Realität hinter der Fiktion des Films ist eine bittere Erfahrung, die viele machen.
Die Regisseurin Chiarla arbeitete in ihrer dramatischen Bearbeitung des Stücks und vorliegenden Verfilmung mit etwas, worauf nur wenige zurückgreifen: Sie sparte den Kinderdarsteller aus, ähnlich wie es im literarischen Drama-Genre für Hauptfiguren üblich ist. Der Zuschauer vernimmt nur eine kaum wahrnehmbare Stimme von Luis über das Telefon. Durch diesen stilistischen Kunstgriff überlässt Chiarla die eigentliche Hauptfigur der Geschichte – Luis – und sein Schicksal der Fantasie des Zuschauers. Die Inszenierung des Stoffs rund um das Taxi und im Fahrzeug selbst ist dabei so einfach wie genial. Die Zuschauer*innen erleben den Film als eine Art Roadmovie, bei dem mit dem Taxi verschiedene Stationen abgefahren werden, nur dass es niemals irgendwo ankommt. Das Kammerspiel wird über das bewegte Bild mobil und entfaltet so den nicht vorhandenen Raum außerhalb der Kontaktwelt zwischen dem Elternpaar.
Auch wenn es zentral um Luis geht, lernen wir ihn also nicht kennen. Wir hören eine bestimmte Symptomatik, können Vermutungen anstellen, empört sein, uns mit den Angehörigen identifizieren oder uns auch von ihnen abgrenzen – aber wie es wirklich ist, die Wahrheit, erfahren wir nicht. Wir bekommen nur mit, dass Mobbing real stattfindet und es am Ende immer Opfer gibt. Das ist die bittere Erkenntnis dieses unbedingt empfehlenswerten Spielfilms, der uns Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeut*innen deutlich macht, dass wir nur mit dem Kind selbst arbeiten und so seine Situation verbessern können. Auch für die psychologischen oder ärztlichen Psychotherapeut*innen ist der Film sehr sehenswert, nur dass dann der Fokus der Betrachtung auf den Eltern liegt. Was zuletzt jedoch für alle eindrücklich und gewinnbringend ist: Der Regisseurin ist es in „Es geht um Luis“ gelungen, anhand eines exemplarischen Mobbingfalls das komplexe Spannungsverhältnis zwischen der Identität des gemobbten Kindes und der Reaktion seiner Außenwelt auf diese transparent und verständlich darzustellen.
Keine Kommentare