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Erweist der individuelle Blick der Psychotherapie der Gesellschaft einen Bärendienst?

Menschen, die in einem großen Metallrohr wild in verschiedenen Richtungen umherlaufen, vor dem Hintergrund einer weiten Sandlandschaft, mit ein paar Steinen und einem freien Himmel
von Juliane Sim

Die Art und Weise, wie wir psychische Störung ver- und behandeln, hilft individuell. Als Berufsgruppe erklären und lindern wir nachhaltig emotionales Leid. Was aber, wenn wir indirekt und unabsichtlich durch unsere Konzepte und Herangehensweisen gleichzeitig die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen aufrechterhalten oder gar verschlimmern, die dazu beitragen, dass Menschen psychisch krank werden?

Circa 100 Jahre nach Gründung der Frankfurter Schule, in der sich Soziologen, Psychoanalytiker, Philosophen und Kulturwissenschaftler zusammentaten, um gemeinsam gesellschaftliche Prozesse kritisch zu analysieren und den aufkommenden Faschismus zu erklären, befinden wir uns erneut in einer Phase, in der autoritäre Strukturen weltweit auf dem Vormarsch sind. Erich Fromm beschrieb einen autoritären Charakter, der nicht nur durch familiäre, sondern auch durch gesellschaftliche Strukturen geprägt ist. Dieser ist dadurch gekennzeichnet, dass Gefühle der Hilflosigkeit und Ohnmacht gegenüber dem System und die Wahrnehmung der Geschehnisse in der Umwelt durch Hinwendung zu einer einfachen Ideologie, einer autoritären Übermacht kompensiert werden. Eine zweite Art der Kompensation stellt die „Automaton Conformity“ dar: Während sich eine Person selbst frei und individuell wahrnimmt, passt sie sich eigentlich nur so gut wie möglich an soziale Normen an, versucht nicht aufzufallen und tut, was alle tun. Beide Formen der Kompensation haben gemeinsam, dass sie Resultate gesellschaftlicher Einflüsse sind und gleichermaßen aus der Wahrnehmung von Hilflosigkeit gegenüber einer übermächtigen Gesellschaft resultieren.

Genau diese Hilflosigkeit finden wir auch heute wieder. Menschen fühlen sich immer ohnmächtiger, sind immer wütender auf die Politik und „die da oben“, sie wählen autoritäre Parteien und engagieren sich weniger ehrenamtlich.

Diesen gesellschaftlichen Prozessen begegnen wir auch in unseren Therapien. Dabei arbeiten wir mit der Prämisse, dass Menschen, die eine Psychotherapie erfolgreich abgeschlossen haben, im Anschluss weitsichtigere Lebensentscheidungen treffen und auch im Kontakt zur Umwelt / Gesellschaft verantwortungsbewusst handeln. Wer ein gutes Verständnis für eigene Bedürfnisse hat, sich auf deren Umsetzung und ausreichend Selbstfürsorge konzentriert, und frei von unbewussten Abhängigkeiten und Zwängen agieren lernt, wird gesund. Und Gesundheit führt automatisch zu Selbstwirksamkeit und partizipativer Teilhabe – so unsere Grundannahmen.

Aber wie zu beobachten ist, passiert gerade das Gegenteil davon. Vielleicht ist es daher wichtig, unsere Überzeugungen über die Wirkung von Psychotherapie auf den Prüfstand zu stellen und uns ehrlich zu fragen, inwiefern unsere Herangehensweisen im Behandlungserfolg tatsächlich zu kritisch denkenden Patient*innen führen. Vermögen wir es mit Hilfe unserer therapeutischen Ansätze wirklich, Menschen im Sinne der Weltgesundheitsorganisation (WHO) „gesünder“ zu machen, sie zu befähigen, sich nicht allein auf ihr eigenes Wohlergehen zu besinnen, sondern sich auch als aktiven Teil gesellschaftlicher Strukturen zu begreifen? Das ist umso wichtiger, weil psychotherapeutische Erklärungsmodelle und Herangehensweisen auf eine sehr interessierte und empfängliche Gesellschaft treffen, die bereitwillig psychotherapeutisches Wissen in Alltagssprache und Lebensweisheiten aufnimmt. Wir prägen mit unseren Hypothesen nicht nur unsere eigenen Therapien, sondern haben auch die Macht, Grundsätze in der Gesellschaft zu verfestigen.

Im Heft 3-2025 unseres Magazins PPP Psychotherapie in Politik und Praxis „Die Welt im Therapieraum – Stimmen für eine kritische Psychotherapie“ berichten verschiedene Autor*innen über die Wechselwirkungen zwischen individuellem Erleben und Gesellschaft.

Mit der nun folgenden imaginären Therapiesituation wollen wir ganz direkt am Beispiel einen Austausch darüber anregen, inwiefern unsere therapeutischen Überzeugungen und Grundsätze einen Einfluss auf den gesellschaftlichen Zusammenhalt und das Miteinander haben.

Die Inspiration zur der erdachten Gruppensituation kommt aus einem online veröffentlichten Artikel zu Menopause und Psychosomatik. (Die Quelle kann erfragt werden, soll aber hier keine Rolle spielen, weil es vorrangig um Haltung und Krankheitskonzepte geht und nicht um dieses spezifische Beispiel.) Dort steht:

„Diesen persönlichen Faktoren [Lebenserfahrungen, Ressourcen] stehen nun Änderungen in der Umwelt entgegen, die sich als Entwicklungsanforderungen präsentieren. Dazu gehört z. B. Verluste zu akzeptieren und zu verarbeiten, wie die Abnahme der Attraktivität, der Leistungsfähigkeit […]“

Dieser Satz eines psychosomatisch-interessierten Gynäkologen in einer Zeitschrift zum Thema Psychosomatik und Menopause möchte ich als Ausgangspunkt für die Analyse einer imaginärer Gruppentherapie nehmen, wie sie hätte stattfinden können.

Nehmen wir den Autor, Chefarzt einer Klinik und Psychosomatiker, und setzen ihn als Therapeuten vor eine Gruppe, die wir relativ zur Grundgesamtheit besetzen: Den größten Teil machen Frauen aus mit den Störungsbildern Depression und Angst, es gibt auch einige männliche Patienten, von denen die meisten eine Suchtdiagnose haben.

Heute ist das Thema Selbstwertgefühl an der Reihe, eine 50-jährige Patientin, Frau S., schildert ein reduziertes Selbstbewusstsein im Zusammenhang mit einer depressiven Störung. Unser Therapeut geht den Ursachen auf den Grund und stellt einen Zusammenhang zwischen Selbstwertgefühl und weniger Aufmerksamkeit und Komplimenten von Männern her. Frau S. fühlt sich verstanden und sieht plötzlich, dass sie eigentlich schon immer Selbstunsicherheit kompensiert hat, in dem sie auf ein ansprechendes Äußeres geachtet hat. Diese positive Verstärkung fällt nun weg. Schönheit war zwar ein „falscher“ Wert, aber ihr trotzdem wichtig. Daher widmet sich der Therapeut der Traurigkeit, die den Abschied begleitet. Frau S. erhält viel Mitgefühl von den anderen Frauen, den meisten geht es ähnlich. Auch in anderen behandelten Bereichen: Frau B. traut sich auch einfach nicht, ähnlich viel Geld zu fordern, wie ihr Kollege verdient, berichtet sie. Auch die Männer können das Problem verstehen, und erklären hilfreich, welche anderen und „besseren“ Werte sie bisher herangezogen haben, um Unsicherheit auszugleichen. Eine junge Großstädterin beschwert sich (erwartbar unkonstruktiv) über alte weiße Männer und das Patriarchat, wird aber freundlich vom Therapeuten darauf hingewiesen, dass hier kein Platz für pauschale Abwertungen sei. Dann lenkt der Therapeut die Gruppe auf Ressourcen und achtet darauf, dass diese spezifisch zu Personen im fortgeschrittenen Alter passen. Mit dem Gefühl, sich verstanden zu fühlen und gewappnet durch neue Ideen verlassen alle die Therapiesitzung. Die Frauen erarbeiten neue Selbstwertstrategien und trauern gemeinsam. Alle sind sich einig, dass es noch ein weiter Weg bis zum Erreichen dieser Art von ausgeglichener Gelassenheit und Souveränität ist, mit der Chefarzt die Gruppe klug leitet und dabei immer wieder die besten Ideen hat.

Welche Dinge werden hier im Therapieraum besprochen, welche Themen nicht? Nach welchen impliziten Grundannahmen über die Welt und über Heilung in der Psychotherapie wird hier gearbeitet? Inwiefern helfen oder behindern unsere Methoden, insbesondere die hier eingesetzten Interventionen, bei Emanzipation und kritischem Denken? Gibt es Anhaltspunkte zur Bewertung dieser Frage, die im Zusammenhang mit der von Erich Fromm problematisierten Hilflosigkeit gegenüber sozialen Rahmenbedingungen stehen?

Während vordergründig State-of-the-Art Therapie durchgeführt wird, schwingen im Hintergrund Konzepte über die Psyche mit, die im Folgenden kritisch betrachtet werden.

1. Keine Politik in der Gruppe

Mit dieser Gruppenregel postulieren wir symbolisch und wirksam eine Dualität zwischen persönlichem Leid und unveränderbarer Umwelt. Es gibt ein persönliches Umfeld, das Gegenstand von Therapien sein kann, weil wir in diesem Bereich Kontrolle und Einfluss haben. Hier kann Therapie ansetzen und helfen. Politik hingegen hat mit unserem Leben nicht direkt zu tun, dort können wir wenig ändern. Also stellt eine Beschäftigung damit Zeitverschwendung oder gar eine „Abwehr“ von den eigentlichen Themen dar. Diese Regel hat ihren Sinn: es ist niemanden geholfen, sich über Dinge aufzuregen, die nicht änderbar sind, weil sie nicht im Handlungsspielraum liegen. Aber in dieser Dualität liegt auch eine Gefahr.

Die so behandelte Frau S. lernt, dass sie keinen Einfluss auf ihre Umwelt hat und sie sich deshalb an diese anpassen muss. Reduzierte Attraktivität muss betrauert werden, an anderer Stelle wird in dem zitierten Artikel auch empfohlen, dass sich Patient*innen auf ihre Ressourcen und ihre Handlungsspielräume innerhalb der Familie und der Arbeit besinnen sollen. Eine Entwicklungsaufgabe wird bewältigt, indem man sich mit Umweltfaktoren abfindet und sich arrangiert, sich selbst besser reguliert und im persönlichen Umfeld neu aufstellt. Heilung wird demnach durch die Akzeptanz der Ohnmacht gegenüber den sozialen Normen und durch Besinnung auf individuelle Strategien erzielt. Diese Regel, die dabei helfen soll, durch realistisches Abwägen eigener Einflussmöglichkeiten therapeutisch an wirksamen Hebeln anzusetzen, kann gleichzeitig dazu führen, dass sich Menschen ins Private zurückziehen, weniger Nachrichten lesen und Selbstfürsorge betreiben, in dem sie sich „unlösbaren“ Aufgaben wie der aktiven Mitgestaltung der Umwelt, nicht mehr zuwenden.

2. Zementierung von sozialen/gesellschaftlichen Konstrukten

Unser Therapeut leitet Frau S. an, den Zusammenhang zwischen Depression und fehlender positiver Verstärkung aufgrund des Älterwerdens zu erkennen und den Abschied zu betrauern. Ein derartiges Konstrukt ist als Basis für eine psychologische Theorie für die Betreffende hilfreich, weil sie das Erleben verstehend einsortiert. Aber gleichzeitig verstärkt der Arzt die Überzeugung, dass Attraktivität wichtig ist: indem er beim Abschied von dieser und beim Trauerprozess unterstützt.

Durch den hohen Stellenwert der Trauer, wird ein gesellschaftlich verhandeltes Konstrukt zum Naturgesetz erklärt. Wen wir jedoch attraktiv finden und wie wichtig es ist, schön zu sein, entspricht keinen globalen Gesetzmäßigkeiten, sondern wird immer neu sozial ausgehandelt und ist Veränderungen unterworfen.

Die im Artikel vorgeschlagene Art der Auseinandersetzung hinterfragt nicht, warum Frauen im Alter Schönheit abgesprochen wird – und warum das Älterwerden bei Männern diese sogar attraktiver macht. Dieser Ansatz hilft im Gegenteil sogar, die bestehende Ungerechtigkeit durch Akzeptanz zu zementieren.

3. Psychische Gesundheit als Normalzustand

In unseren Therapien entwickeln wir gemeinsam mit unseren Patient*innen Störungsmodelle, die je nach Therapieschule innerpsychisch die Ursachen für Krankheitssymptome ausfindig machen. Heilung liegt in Einsicht und Klärung innerer Konflikte, Erlernen von besserer Emotionsregulation, Veränderung dysfunktionaler Grundannahmen oder einem verbesserten Kontakt zu Bedürfnissen und deren selbstfürsorglichere Umsetzung. Dadurch vermitteln wir einen Handlungsleitfaden, Zuversicht und Selbstwirksamkeit. Gleichzeitig aber bedienen wir auch ein meritokratisches Weltbild. Gesundheit liegt in den eigenen Händen, jede*r ist seines/ihres Glückes Schmied; Krankheit ist das Resultat von persönlichen, behandelbaren Defiziten. Wir machen damit Gesundheit zur Norm. Und übersehen dabei, dass diese vermutlich eher ein Privileg darstellt.

Am Beispiel von Umgang mit Hautfarbe lässt sich das kurz erklären: Wenn ich als weiße Frau nie polizeilich kontrolliert werde, empfinde ich das als normal. Und merke dabei gar nicht, dass ich in einem Land lebe, in denen viele PoC aufgrund von systemischem Rassismus häufig „anlasslos“ überprüft werden. Aus meiner Sicht wird diesen Personen etwas „weggenommen“, sie werden benachteiligt. Rassismus raubt Freiheit, Sicherheit und Vertrauen. Was aber, wenn man berücksichtigt, dass ein sehr großer Teil der Menschen in Deutschland einen Migrationshintergrund haben? Statistisch wird dadurch Erleben von Alltagsrassismus „normal“, uund die Abwesenheit dieses Stressfaktors wird in meiner Welt zum Privileg. Mir wird etwas „geschenkt“ (Vertrauen des Staatsapparates, dass ich eine „gute“ Bürgerin bin). Ein besonderes Geschenk, dass mir gar nicht bewusst ist, aber von dem ich nicht nur auf der Straße, sondern auch bei Vorstellungsgesprächen, bei der Wohnungssuche, in der Schule und vermutlich beinah überall sonst (unbemerkt) profitiere.

Die Frage, ob mein Weißsein hier ein Zusatzvorteil ist oder ob Rassismus eine Benachteiligung darstellt, macht für Betroffene individuell keinen Unterschied. Es ist eine philosophische Entscheidung, ob man die Norm beim Idealzustand ansetzt, also eine gerechte Welt postuliert, in der Diskriminierung eine Benachteiligung darstellt oder ob man statistische Parameter zugrunde legt und anerkennt, dass das Fehlen von rassistischen Übergriffen relativ zum tatsächlichen Erleben der Bevölkerung eher als Vorteil verstanden werden muss. Aber es macht einen Unterschied für mich, auf welche Art ich mir meinen Erfolg im Vorstellungsgespräch zuschreibe. Hat es „ganz normal“ etwas mit meiner Leistung, oder eben auch mit einem unbemerkten Vorteil zu tun?

Zurück zur psychischen Gesundheit, wie halten wir es mit dieser? Was ist „normal“ gesund? 

Das Vulnerabiltäts-Stress-Modell besagt, dass mit ansteigender Belastung auch die Vulnerabiltät für psychische Erkrankung steigt. Gesundheit wird durch ein zu viel an Belastung bedroht und dadurch unwahrscheinlicher, je mehr Stress auf die Person einwirkt.

Diskriminierung macht Stress. Intersektional diskriminierte Menschen haben mehr Stress. Wir alle fallen an manchen Stellen in Gruppen hinein, die benachteiligt werden. Aber es stimmt auch, dass es viele Personen gibt, die von Geburt an ein deutlich stressigeres Leben haben. Gesundheit ist gruppenspezifisch unterschiedlich verteilt: es macht für Gesundheit und Lebenserwartung einen sehr großen Unterschied, ob man (unter anderem) reich, männlich und weiß oder als PoC, weiblich und arm geboren wird.

Diese Unterschiede sind da und haben eine Wirkung. Metastudien zeigen, dass psychische Phänomene soziologisch erklärt werden können. Selbstbewusstsein korreliert mit Privilegien / Benachteiligungen. Je ärmer, je mehr körperlich und psychisch beeinträchtigt, je älter eine Person ist, desto mehr Stress lastet auf ihr, desto schwerer machen es ihr äußere Umstände, ein stabiles, sicheres Gefühl für Selbstwert zu entwickeln. 

Am besten ist dieser Zusammenhang zwischen den Faktoren Geschlecht und Selbstsicherheit untersucht. Ein geringeres Selbstbewusstsein von Frauen kann als persönliches Defizit geframed werden und mit Hilfe von funktionaleren Grundüberzeugungen verbessert, also auf die „gesündere“ Stufe von männlichem Selbstbewusstsein gehoben werden. Man könnte aber auch argumentieren, dass Frauen mit ca. 50 Prozent Anteil an der Bevölkerung statistisch „normal“ sind. Dass ein geringeres Selbstbewusstsein in einem Patriarchat erwartbar und normal ist und es demzufolge nicht allein an wenig unterstützender Erziehung oder unzulänglicher innerer Regulation liegt, wenn es Frauen schwerer als Männern fällt, nach demselben Lohn zu fragen.

Auf unsere Gruppentherapie bezogen ist es statistisch am wahrscheinlichsten, dass der Therapeut in sich Gruppenzugehörigkeiten versammelt, die eher mit mehr Diskriminierung konfrontiert sind als er selbst: Die Patient*innen sind vermutlich ärmer, weiblicher, weniger gebildet, körperlich eingeschränkter und queerer.

Seine Ausgeglichenheit kann hoher Gesundheitskompetenz geschuldet sein, aber vielleicht ist diese (auch) Ausdruck von deutlich geringerem durch die Umwelt verursachtem sozialen Stress. Vielleicht hat er diese von Beginn an als fördernder, ressourcenreicher, zuversichtlicher, unterstützender und unproblematischer erlebt und gehört damit zu einem Ausreißer in der Grundgesamtheit der Bevölkerung.

Bezieht man diese Betrachtungen mit ein, ist es dringend erforderlich, unsere Krankheitskonzepte um soziologisches, gesellschaftliches Wissen zu erweitern.

Patient*innen können durch Einbezug von sozialen Faktoren ihr eigenes Empfinden besser einordnen und verstehen und erfahren durch das Wissen Entlastung, dass es eben nicht allein persönliches Scheitern ist, krank zu werden.

Setzt man überdurchschnittliche psychische Gesundheit und Stabilität mit Privilegien in Beziehung, kann das gleichzeitig auch schmerzhaft sein. In einer meritokratischen Welt sind wir gern geneigt, Status und Gesundheit unserem eigenen Handeln zuzuschreiben. Ein Wandel unserer Konzepte geht an anderer Stelle mit der Bedrohung von Selbstwirksamkeit und Selbstbewusstsein einher.

Ich würde mich freuen, wenn unser Themenheft dazu beiträgt, dass wir gemeinsam ausloten, wie Politik und soziologisches Wissen sinnvoll in die Therapie eingebracht werden können. Wie wir in unseren Krankheitsmodellen der Tatsache Rechnung tragen, dass wir nicht allein für unsere psychische Gesundheit verantwortlich sind, sondern dass unsere Herkunft und Schichtzugehörigkeit „unverdient“ Benachteiligungen oder Privilegien darstellen; dass wir reflektieren, wie wir Rahmenbedingen – gerade nicht neutral und nicht wertfrei – auf eine Art und Weise benennen können, die kritisches Denken fördert und damit die Grundlage legt, diese aktiv gemeinsam zu verändern. Dies ist insbesondere dort erforderlich, wo wir schon heute sehr genau wissen, dass Umweltfaktoren krank machen.

Emanzipation im Sinne von bewusster gesellschaftlicher Teilhabe scheint sich nicht automatisch in einer Gesellschaft zu etablieren, wenn es Menschen materiell besser geht. Es braucht gute Konzepte, wie wir die Hilflosigkeit gegenüber der Umwelt/ Gesellschaft bearbeiten können. Vielleicht sollte diese als Krankheitssymptom mit abgefragt werden und deren Lösung in Therapien integriert werden. Wir brauchen in den nächsten Jahren mehr denn je selbstwirksame, kritisch denkende Menschen, die dabei aktiv unterstützen, mit den Folgen des Klimawandels einen sozial gerechten Umgang zu finden und dabei die Demokratie zu erhalten. 

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Über den Autor

Juliane Sim

Psychologische Psychotherapeutin (VT) für Erwachsene in eigener Praxis mit Schwerpunkt Gruppentherapie; Dozentin und Supervisorin, Vorsitzende des Arbeitskreises Frauengesundheit e. V., Delegierte im Deutschen Frauenrat.

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Ein Kommentar

Susanne Trachtenberg
  • 17. September 2025 um 11:55 Uhr

Sehr geehrte Frau Sim,
vielen Dank für Ihren interessanten Artikel, dem ich in vielen wichtigen Punkten, die Sie aufgebracht haben zustimmen kann. Hinsichtlich der Berufspolitik wollte ich noch einen weiteren Aspekt hinzufügen, nämlich die Zeit. Emotionale Prozesse, die z.B. von Benachteiligungen stammen therapeutisch durchzuarbeiten, um zu einer Besserung zu kommen, zu mehr Stabilität, Flexibilität etc., was dann kritische Auseinandersetzung ermöglicht benötigt (viel) Zeit. Die Trends in der Therapie gehen aber zu immer kürzeren Genehmigungszeiträumen oder gar AI-Therapien. Hier für die Wahrheit einzutreten, dass diese Prozesse nicht beliebig optimierbar, beschleunigbar, manualisierbar und generalisierbar sind, sondern dass ein gewisser „Sättigungsgrad“ bei den Patient*innen erreicht werden muss, mit Hilfe dessen diese dann – außerhalb der Therapie – Einstellungen zu gesamtgesellschaftlichen Phänomenen finden können, ist meiner Ansicht nach in der Berufspolitik unterrepräsentiert und dringend nötig. Der Wunsch nach führender, schützender, versorgender Autorität, sei es dem Staat oder dem weißen Gruppenleiterprofessor gegenüber stammt ja aus innerer Unterversorgung gemischt mit Botschaften über „das schwache Geschlecht“ oder „Weicheier“ und diese problematisch prägenden Botschaften zu identifizieren erfordert Kraft, die Verhungernde nicht haben. Und unterernährte Zustände aufzubauen kann nur langsam geschehen. Ist das dann allerdings geschehen, kann frau und man sich zutrauen, dem Gruppenleiter – Prof. oder nicht – zu widersprechen bzw. sich nicht mundtot machen zu lassen bei Hinweisen auf’s Patriarchat oder ähnliche Ungerechtigkeiten, in diesem geschützen Rahmen also zu üben, dann kann erkannt werden, dass jemand anfangen muss, Dinge zu ändern und nicht mehr nur auf Rettung zu warten.
Genau, wie Sie es in Ihrem Artikel tun:)